Die Wahrnehmungstendenzen


Vorneweg: ich bin als Künstler und Kunsttheoretiker, der ich versuche, mit der Zeichenkritischen Theorie ein Modell vorzulegen und zu beschreiben (und dies ist in meinem Verständnis auch eine Kunstform), mit dem die Produktion und die Rezeption von Kunstwerken verstanden werden kann, selbstverständlich nur Dilletant, was die tieferen Einblicke in die Wissenschaftsfelder der Gehirnphysiologie und der Psychologie anbelangt. Dennoch meine ich, ein Modell gefunden zu haben, welches  für meine Zielsetzung, nämlich einem adäquaten Umgang mit Sprache und insbesondere mit dem Bildwerk, anwendbar ist.

Jeder Mensch prägt im Laufe seines Lebens (und auch in unterschiedlicher Weise je nach Lebensalter und/oder -situation) ganz bestimmte Wahrnehmungsintentionen in besonderer Weise aus. besonders prägnant , und für einzelnen Individuen "typisch", sind die Wahrnehmungstendenzen. 

Die Vorstellung, die meiner Modellentwicklung zugrunde liegt ist erst einmal ein Paradoxon: Ich gehe von acht Wahrnehmungstendenzen aus, die als eine logische Folge aufeinander aufbauen. Gleichzeitig sind diese Wahrnehmungstendenzen im Laufe einer menschlichen Entwicklung jedoch alle immer gleichzeitig vorhanden, wenn auch mit einer, der persönlichen Entwicklung folgenden Verdichtung und anwachsender Komplexität. Die Tendenzen der Wahrnehmung, die hier allgemein beschrieben werden, bilden in jedem Individuum wiederum ein bestimmtes, der individuellen Entwicklung eines Menschen entsprechendes Mischungsverhältnis, welches sich als "Wahrnehmungsweise" konkret ausdrückt. Dabei können sich Menschen auch zu "Spezialisten für Wahrnehmungstendenzen" entwickeln, eben dann, wenn sie die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel  einer sehr dominanten Wahrnehmungstendenz heraus erleben. Im Folgenden erscheinen diese Spezialisierungen immer nach der Beschreibung der einzelnen Wahrnehmungstendenzen. 

Die Wahrnehmungstendenzen kann man sich als Bild so vorstellen: Wir haben ein achtstöckiges Hochhaus, unten müssen alle, die in das Haus wollen, erst einmal hinein. Wenn man im Haus drin ist, kann man sich in den verschiedenen Stockwerken aufhalten oder wohnen, kann Nachbarn besuchen oder sie nicht zur Kenntnis nehmen. Innerhalb der Parteien dieser acht Stockwerke gibt es besondere Freundschaften, aber auch Misstrauen und Animositäten. Und manche Nachbarn lernt man erst nach Jahren kennen und merkt erst dann was das für nette Leute sind...


1. Die ästhetische Wahrnehmungstendenz


Der Begriff des "Ästhetischen" folgt hier wie überall in der Zeichenkritischen Theorie dem ursprünglichen Gehalt dieses Wortes. "aisqanomai" heißt griechisch in der ersten Bedeutung "wahrnehmen", die Denotation des "schön Findens" kommt erst später hinzu und wird in der Zeichenkritischen Theorie als komplexe Wahrnehmungsweise dargestellt. 

Als ästhetische Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch auf Außenimpulse angewiesen ist, und für deren Rezeption und Verarbeitung mit solchen Sinnesorganen ausgestattet ist, die es ihm ermöglichen, die Realität angemessen - also von seinem spezifischen Menschsein her - zu erfassen.

Als Wahrnehmungstendenz wird die ästhetische Wahrnehmung von Wirklichkeit bewusst erfahren, indem der Mensch sich diesen physiologischen Möglichkeiten des (spezifisch menschlichen) sinnlichen Erlebens von Außenimpulsen öffnet. Im optimalen Fall ist dabei eine irritationsfreie Aufmerksamkeit möglich. Im Zentrum steht dabei die Öffnung auf das (unbewertete) "Jetzt" des Erlebens in allen seinen sinnlichen Komponenten. Es ist die Ebene der Hinwendung auf den Augenblick.

Spezialist des Ästhetischen ist der Gourmet, der Lebenskünstler, der Genussmensch.

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2. Die gestische Wahrnehmungstendenz


Als gestische Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch in der Lage ist, auf (ästhetische) Außenimpulse aktiv zu antworten. Sinnesorgane wären "sinnlos", wenn nicht mit der Fähigkeit zur Reizaufnahme auch eine Antwortmöglichkeit verbunden wäre. Die Änderung der physiologischen internen Zustände durch den Außenimpuls und deren Umsetzung (oder Nicht-Umsetzung) nach außen als Aktivität ist Bereich der Psychologie.

Als Wahrnehmungstendenz wird die gestische Wahrnehmung von Wirklichkeit bewusst erfahren, indem die ureigene Stellungnahme zu Außenimpulsen auf Grund dieser primären Antwortfähigkeit wahrgenommen wird. Die gestische Wahrnehmungstendenz ist die Ebene der Antwortbereitschaft.

Spezialist: Der immer Handlungsbereite, der "Macher".

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3. Die tiefensymbolische Wahrnehmungstendenz


Der Mensch erlebt Außenimpuls und eigene Antwort als (primäre) Erfahrung. Diese Erfahrung ist "selbstverständlich", da sie durch die physiologischen Gegebenheiten zum Ursprünglichen des Menschseins gehören. Ich gehe davon aus, dass auch Tiere über diese Formen der Wahrnehmung verfügen, wie "bewusst" auch immer.

Als tiefensymbolische Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass im sozio-parentalen Umfeld der (früh)kindlichen Entwicklung diese primären Erfahrungen (fast) immer eingebettet sind in den Kontext von Kommentierungen (welcher Art auch immer) der Eltern oder der jeweiligen Bezugspersonen. Als "prägende" Erfahrung wird dann diese komplexe Erfahrung als Gedächtnisspur festgehalten. Diesen Umstand nenne ich die "sozio-parentale-Kommentierung". Die sozio-parentale-Kommentierung ist Voraussetzung für spezifisch menschliche Gedächtnisleistungen, die die nicht mehr genetisch verankert sind, sondern auf die jeweilige familiäre und kulturelle Situation hin orientiert sind. 

Die tiefensymbolischen Primärerfahrungen werden als situationsbezogene "Layer" gespeichert, in der die einzelnen Elemente dieser Erfahrungen noch nicht differenziert werden. Diese Layer entsprechen der Tatsache, dass auch jeder Augenblick, jedes "Jetzt" eine hochkomplexe Zusammenkunft verschiedenster Impulse ist, die in permanenter Veränderung begriffen sind und sich in ihrer Gesamtheit so nie wiederholen ("situativ-amorphes Kontinuum"). Über assoziative Fähigkeiten des Gehirns werden später im Leben schon bei weniger Impulsen, als der (primären) Gesamterfahrung entsprechen, diese frühen Gedächtnisinhalte als Stimmungen, Empfindungen, Gefühle reaktiviert. 

Mit Sicherheit gibt es auch Primärerfahrungen, die nicht an die sozio-parentale-Kommentierung gekoppelt sind, Naturerlebnisse, Beziehungserfahrungen, einmalige Ereignisse, auch Unfälle, usw. Insbesondere erlebt man solche Ereignisse auch in fortgeschrittenerem Alter (nachdem das Sprachzentrum ausgebildet ist). Im Gegensatz zu der Wucht tiefensymbolischer Erfahrungen sind diese aber stark gemildert. (wegen eines wunderbaren Sonnenaufgangs wird niemand zum Neurotiker...)

Als tiefensymbolische Wahrnehmungstendenz wird die Primärerfahrung im Sinne der sozio-parentale-Kommentierung wahrgenommen, wenn die aktuelle Wirklichkeit in der Analogie zu dieser und den damit zusammenhängenden Empfindungswerten erlebt wird. Diese Wahrnehmungstendenz ist Gegenstand der Tiefenpsychologie. Als Wahrnehmungstendenz ist es die Ebene des analogiehaften Empfindens

Spezialist: Der Stimmungsvolle (Der "Selbsterfahrer"), der Melancholiker, der Choleriker, und andere dieser feinen Ausprägungen menschlicher Psyche...

weitere Überlegungen zur tiefensymbolischen Wahrnehmungstendenz


4. Die ikonische Wahrnehmungstendenz


Als ikonische Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch einzelne Außenimpulse, die ja in ihrer Gesamtheit in permanenter Folge als Layer auf ihn einstürmen, isolieren kann und diese aus dem Layer herausgelösten "cut-outs" mit Gedächtnisinhalten (die über assoziative Felder - oder über Regionen des limbischen Systems - mehr oder weniger tiefensymbolisch "angefärbt" sind) so vergleicht, dass er  diese (zweifellos ganz neuen) Impulszusammenhänge als Ikon "wiederer-kennen" kann.

Anmerkung: wir sind gemeinhin der Auffassung, dass ein "Kennen" eines Gegenstandes oder eines Sachverhalts diesem Sachverhalt auch genau entspricht. Wenn man jedoch bedenkt, dass die Gegenstände - sagen wir einmal 'Baum' - etwas ist, was als komplexe Struktur in einem Biotop eine bestimmte 'Funktion' hat, dann erahnen wir, dass die Funktion oder die Funktionen (Früchtelieferant, Holzlieferant, Schattenspender, etc.), die wir dem Baum zuschreiben, davon mit Sicherheit verschieden sind. Das Ikon ist somit kein Abbild des Dinges, sondern ist ein Abbild des gesellschaftliche Gebrauchs des Dinges, wenn es diese Ding in der Realität (isoliert) überhaupt gibt... somit sind Ikone auch Festlegungen, was besonders interessant wird, wenn man es mit Bildern zu tun hat, die wir ja sehr gerne als "realistisch" betrachten würden. 

Zur ikonischen Wahrnehmungstendenz wird das er-kennen dann, wenn wir bewusst auf das Wiedererkennen, auf das Wiedererkennbare schauen, bzw. uns die Frage nach den Bedingungen des Wiedererkennens von Impulszusammenhängen stellen. Es geht dabei um die Abgrenzung interner Konstanten, um "Identitäten", um Ähnlichkeit. Dabei steht der Blick auf den Gegenstand im Zentrum, wie das Warten auf einen Gast am Bahnhof. Dazu gehört dann auch das blasierte "Kenn ich schon" dessen, der nicht mehr die ästhetischen Verführungen der Gegenwart wahrnimmt, sondern alles unter dem Gesichtspunkt des "déjà vu" erlebt. Als Wahrnehmungstendenz ist es somit die Ebene des Kennens

Spezialist ist der Kenner der Materie (Der Gelangweilte), der, der alles schon kennt und auf alles eine Antwort weiß...

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5. Die individualsymbolische Wahrnehmungstendenz


Als individualsymbolische Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch die (ikonischen) Gedächtnisinhalte - <also die cut-outs) zu einem internen Ordnungsschema von "Welt" zusammenfügt. Man macht sich ein Bild, man interpretiert. 

Jeder einzelne Mensch hat auf Grund seiner ganz persönlichen Geschichte ein solches individualsymbolisches Bild (sein inneres "Tableau"), welche für ihn eine selbstverständliche Evidenz besitzt, da sie auf Grund seiner eigenen Geschichte gewachsen ist und er sich die Wirklichkeit dementsprechend "zurecht gelegt" hat. Mit Hilfe dieses Tableau kann er sich in der (ihm eigenen) Umwelt bis zu einem gewissen Grade orientieren. Stößt er an die Grenzen seiner Orientierung, dann wird er bestrebt sein, dieses Tableau zu verbessern. 

Wenn die Vorstellungen von Welt größer sind als der beschreitbare Rahmen der Realität, dann werden in das individualsymbolische Tableau auch Elemente von Fremderfahrung eingebaut. Die individualsymbolische Wahrnehmung hängt direkt mit der Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebene O' zusammen. (Man könnte sagen, die individualsymbolische Wahrnehmung ist das O' eines jeden Individuums.)

Zur individualsymbolischen Wahrnehmungstendenz wird dies dann, wenn wir bewusst uns unserer "Phantasie" hingeben, und Wirklichkeit konstruieren als "Meinung" über die Zusammenhänge von "Welt". Die individualsymbolische Wahrnehmungstendenz hat einen innovativen, manchmal anarchistisch-revolutionären Zug, dann, wenn es gilt, neue Vorstellungen zu entwickeln. Als Wahrnehmungstendenz ist es die Ebene der Interpretation

Spezialist: Der Phantasievolle (der "Sich-Verwirklicher"), der Interpret (z.B. "Kunstkritiker"), der Utopist, auch - und besonders: der Künstler. 

weitere Überlegungen zur individualsymbolischen Wahrnehmungstendenz


6. Die sprachsymbolische Wahrnehmungstendenz


Als sprachsymbolische Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch die individualsymbolische Interpretation mit anderen Menschen über Sprachformen ständig abgleicht. Dies muss über Sprachformen gehen, und damit über die diesen Sprachformen eigene Gesetzmäßigkeiten. Dazu gehört auch, dass die Begriffe und die Syntax von den kulturellen Bedürfnissen vorgeprägt sind, also im wesentlichen nur diese zum Austausch zur Verfügung stehen. Damit werden die eigenen Vorstellungen, also das eigene Tableau, in die gesellschaftliche Form eingepasst, und erst dann kann man sich "verständigen".

Die sprachsymbolische Wahrnehmung ist in aller erster Linie der Austausch und Abgleich von Individualsymboliken über kulturelle Sprachsysteme. Auf Grund unterschiedlicher Positionen werden die daraus resultierenden Interpretationen einander mitgeteilt, die auftretenden Differenzen werden "ausdiskutiert". Man einigt sich. Das Ergebnis ist dann eine gemeinsame Position. "Meinungs"-Verschiedenheiten sind jetzt geklärt, man kommt zu einer gemeinsamen Deutung der Sache, und damit ist auch eine Be-deutung geschaffen. 

Dies ist sozusagen die "demokratische" Variante der Sprachsymbolik, die andere ist die mehr oder weniger zwangsweise aufoktroyierte Übernahme von  Sprachsymboliken. Die einfachste Varianten ist noch die "herrschende" Sprache selbst, die ja durch ihre Reduktion auf die Themen, die systemkonform sind, schon das Bewusstsein in einer ganz bestimmet Weise bestimmen. 

Die familiäre Erziehung und die damit verbundene Eingliederung in das sozio-parentale System hat sicherlich mit demokratischen Formen nicht mehr viel zu tun. ("Solange Du die Beine unter meinen Tisch streckst, bestimme ich..." usw.) Für das Herausbilden einer Sprachsymbolik und insbesondere für eine Eingliederung in das kulturelle Netz ist diese Form der Erziehung wichtig und nützlich.

Mediale (Sesamstrasse, aber auch Goethes "Faust"), institutionelle ("die klassische Schulbildung") und politische Strukturen ("Duell" der Präsidentschaftskandidaten...) sind für die Herausbildung von Sprachsymboliken ebenso nützlich, insbesondere das Fernsehen hat heute eine Vorreiterrolle darin übernommen, die Menschen auf einen gemeinsamen Diskurs einzuschwören. Schulschwänzer und medial Uninteressierte sind dagegen von vornherein suspekt. 

Autoritäre Regime pflegen die Vereinheitlichung des Diskurses auf drakonischere Art zu lösen: (Regime-) Kritiker und andere Abtrünnige werden eingesperrt oder gleich umgebracht.  

Zur sprachsymbolischen Wahrnehmungstendenz wird dies Ganze dann, wenn man bewusst dem kulturellen Diskurs folgt, wenn man sich "richtig" ausdrückt, wenn man sich darum bemüht, "Manieren" zu haben, wenn man um die Bedeutung der Worte und Handlungen weiß und diese im Sinne der herrschenden Ideologie einsetzt. Selbstverständlich auch dann, wenn man eben die Brüchigkeit sprachsymbolischer Diskurse wahrnimmt. Da die Sprachsymbolik generell auf dem Phänomen der Bedeutung beruht (konventionelle Zeichen als denotative Bedeutungsträger) ist sprachsymbolischen Wahrnehmungstendenz die Ebene der Deutung 

Experte: Der Gelehrte (Der Lehrer), Der "Gebildete", der Konservative, der Folgsame, auch der Regent, der Diktator. 

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7. Die indexalische Wahrnehmungstendenz


Als indexalische Wahrnehmung bezeichne ich den Tatbestand, dass der Mensch ein komplexes Wissen hat von den Zusammenhängen seiner Lebensbedingungen. Menschen in gleicher oder ähnlicher Lage haben auf Grund dieses kollektiven Zusammenhalts ein gemeinsames Wissen. Wenn man z.B. in einem Raum sitzt, haben alle darin befindlichen ("normalen") Menschen eine Vorstellung davon, wo die Fenster sind, wie warm es ist, wie hell es ist, welche Tages- und Jahreszeit man gerade hat, zu welchem Zwecke man hier zusammen ist, usw. Über diese gemeinsamen Dinge muss man nicht sprechen, da sie ja eben jeder weiß. D.h., die indexalische Wahrnehmung nimmt man eigentlich gar nicht wahr, da sie situativ so selbstverständlich ist, dass sie kaum ins Bewusstsein dringt. Dennoch ist sie von grundlegender Bedeutung, ohne sie wäre eine Orientierung in Raum und Zeit nicht möglich und man könnte sich nur äußerst umständlich verständigen, wenn man gezwungen wäre, jedes Detail einer Situation zu benennen. Ein Satz wie "mach mal dort die Türe zu!" wäre völlig unverständlich, wenn  man über diese Wahrnehmung nicht verfügen würde.

Dieses Wissen ist natürlich nicht nur auf die Situation beschränkt, die eben gerade herrscht, man hat auch ein situatives Gedächtnis, welches Situationen weiß, die nur noch als Erinnerung vorhanden sind. Hier handelt es sich um eine Gedächtnisart, die vergangene Situationen komplex aufrufen kann. ("weißt Du  noch, damals auf dem Hochsitz?") Das Antippen einer gemeinsamen Erinnerung setzt diese Wahrnehmung ebenso in Gang, wie eine Fotografie oder uralter Liebesbrief. 

Auch die 'klassische' Definition des indexalischen Zeichens hat hier seinen Platz: Das Verkehrszeichen z.B. beschreibt eben eine Situation, die man aus dem gegenwärtigen Kontext und dem Wissen um den Sinngehalt des Zeichens her hat. Deswegen weiß man, dass man hier nicht parken darf. 

Der Rekurs auf eine direkte Erfahrung, die man im Zusammenhang mit etwas gemacht hat oder gerade macht, lässt einen jenseits von Individualsymbolik und Sprachsymbolik bei der Wahrnehmung von Impulszusammenhängen die inneren Vorstellungswelten (Tableaux) an der Wirklichkeit überprüfen. 

Diese Erfahrungen sind in erster Linie seine auf direkter Erfahrung basierenden Kenntnisse des existentiellen Feldes in dem er sich befindet, und auf das hin sich alle aktuellen Signalmuster beziehen lassen. Die 'Gegenwart', die 'Situation', der 'situative Kontext' sind Begriffe, die diesen Tatbestand beschreiben. Über das Wissen um diese situativen Kontexte werden Informationen aus der Umwelt sofort um das Notwendige ergänzt und so verstanden. 

Zum andern ist indexalisches Wissen über überprüftes Quellenstudium verfügbar, überprüft insofern, als es auf Grund von mehreren voneinander unabhängigen Quellen in gleicher Weise sich darstellt, und sich dem allgemeinen Wissen um Sachverhalte und der Logik des "gesunden Menschenverstandes" nicht entzieht. 

Zur indexalischen Wahrnehmungstendenz wird dies dann, wenn der Mensch bewusst Wissen um die situativ-causal-finalen Zusammenhänge zu der Impulsmenge die er tatsächlich erfährt, addiert und Sachverhalte so innerhalb eines Kontextes neu zuordnen kann. Die indexalische Wahrnehmungstendenz hat immer die Realität im Blick, und versucht, die verschiedenen Wirklichkeitsebenen zu unterscheiden. Es ist die Ebene des Wissens. 

Spezialist: Der Wissende (der Wissenschaftler), der Kritische (Unterscheidende), der "Realist"

weitere Überlegungen zur indexalischen Wahrnehmungstendenz


8. Die abstrakte Wahrnehmungstendenz


Als abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit bezeichne ich die Tatsache, dass der Mensch in ein Kontinuum von Außen- und Innenimpulsen, von Relationen und Ordnungen eingebunden ist, das zusammen mit den anderen Ebenen der Wahrnehmung (die ebenso kontinuierlich anwesend sind) das Feld existentieller Bewusstheit darstellt. Anders als beim Indexalischen, welches situativ zuzuordnen ist, sind beim Abstrakten existentielle Konstante in überzeitlicher Qualität erfassbar.  

Dieses Feld wird allerdings erst dann "bewusst", wenn innerhalb dieses Kontinuums "Auffälligkeiten", "Merkwürdigkeiten", "Besonderheiten" eine konkrete Gestalt annehmen. Erst als Figuren des Besonderen werden sie auf dem Grund des Selbstverständlichen erkennbar. Dieses Besondere ist in jedem Falle eine Form der Konkretion, die das Abstrakte mit den anderen Wahrnehmungstendenzen verknüpft. 

Zur abstrakten Wahrnehmungstendenz wird dies in dem Moment, in dem der Mensch die Impulse der Außenwelt (und seiner Innenwelt) so versteht, dass er bei der Wahrnehmung das dieser Wahrnehmung zugrundeliegende Prinzip als Teil des existentiellen Kontinuums mit wahrnimmt. Im Denken erleben wir das als "Schau", möglicherweise als "Vision". Im meditativen Erleben kann das Abstrakte bewusst werden. Es ist die Ebene des existentiellen Kontinuums.

Spezialist. Der Weise (der Philosoph), der Mathematiker, der Logiker...

weitere Überlegungen zur abstrakten Wahrnehmungstendenz


                            

Ein paar Überlegungen zu den Wahrnehmungsweisen:

Im bisherigen Text wurden als "Spezialisten" acht Typen von Wahrnehmungstendenzen vorgestellt, die natürlich so in reiner Form nicht vorkommen. Wirklichkeit ist genauso unteilbar wie Wahrnehmung, und wie der Mensch immer alle Wahrnehmungsebenen zusammen wahrnimmt, so nimmt er auch mit allen Wahrnehmungstendenzen wahr. Täte er das nicht, wäre der Mensch zumindest krank, wenn nicht lebensunfähig.

Dennoch zeigt das "Spezialistentum" auf, dass es offenbar Schwerpunkte in der Wahrnehmung gibt. Nicht alle Wahrnehmungstendenzen sind für jeden Menschen gleich wichtig. Auch hier gibt es wahrscheinlich so etwas wie ein Mischungsverhältnis, welches die Anteile der Wahrnehmungstendenzen bei der Wahrnehmung kennzeichnet. 

Nehmen wir an ein Mensch nähme die Wirklichkeit vorwiegend sprachsymbolisch, dann noch ikonisch und in geringerem Maße tiefensymbolisch wahr. alle anderen Tendenzen bleiben demgegenüber zu vernachlässigen. Wie nähme also so ein Mensch die Wirklichkeit wahr?

Sagen wir er geht in der Stadt spazieren. Er wird die Menschen, die ihm begegnen auf ihre Kleidung und Frisur hin betrachten, er wird schöne Autos und Schaufenstergestaltungen sehen wollen, es wird ihn stören, wenn jemand unordentlich aussieht, und es wird ihm dafür ein passendes Bonmot einfallen. Er wird dabei ein Gedicht rezitieren oder ein Lied auf der Zunge haben, er wird sich darüber mokieren, dass in einem Geschäft auf einer Preistafel etwas falsch geschrieben ist. Soweit seine sprachsymbolische Wahrnehmungstendenz. Seine ikonische Wahrnehmungstendenz wird ihm den Blick darauf lenken, dass es nicht viel Neues zu sehen gibt, er wird einen gewissen Grad von Langeweile verspüren, aber dann ist es ihm doch auch wieder wichtig, dass er bestimmte Dinge, die er gestern schon bei seinem Spaziergang gesehen hat noch mal anschauen kann. Sein tiefensymbolischer Anteil wird ihm dann das ganze Erleben unter dem Gesichtspunkt wahrnehmen lassen, dass es gut ist, eine gewisse Sicherheit zu haben, wenn man in der Stadt herumläuft, zu Hause liest er immer nur, um seine beunruhigende Langeweile zu überdecken. 

Würde ein Mensch jetzt dieselbe Wahrnehmungsweise haben wie unser erster Freund, nur würde der tiefensymbolische Anteil durch den gestischen ersetzt, dann könnte so einer vielleicht folgendes wahrnehmen. Er wird natürlich in ähnlicher Weise in der Stadt herumlaufen, wird das aber nicht als Sicherheitserfahrung machen, sondern weil er Betätigung braucht. Er wird die Menschen ansprechen, denen er begegnet, wird beim Einkauf mit der Kassiererin sprechen (wie jeden Tag), wird dem Bettler an der Strasse auch 10 Cent hinlegen, und wird sich vor allem daran freuen, wie er weit mit den Schritten ausholend, die Entfernungen abschreitet (er wird dabei an eine Gedicht denken, welches er schon lange kennt, und welches seine Situation genau beschreibt...).

So etwa kann man sich das vorstellen mit den Wahrnehmungsweisen, Ich denke normalerweise reichen drei von den acht Wahrnehmungstendenzen, um  die Wahrnehmungsweise ausreichend zu charakterisieren. Damit gibt es schon eine ungeheure Menge von verschiedenen Ausprägungen, die dennoch die Vielfalt der tatsächlich existierenden Menschen nur ungenau abbildet. Wir haben hier zwei Ausprägungen angedacht, ich bitte den Leser sich dieser Übung zu unterziehen und mit dem eigenem Verständnis und der eigenen Phantasie sich auszudenken, wie eine Wahrnehmungsweise konkret aussehen könnte

Noch komplexer wird es, wenn wir auch noch die Wahrnehmungsebenen mitsehen, wenn wir also die gesamte Wahrnehmungsintention  betrachten. 

Nehmen wir noch mal den ersten Fall:

Zwei Versuchskaninchen gehen wieder in der Stadt spazieren, mit sprachsymbolischer, ikonischer und tiefensymbolischer Wahrnehmungstendenz. Der eine hat allerdings einen Wahrnehmungsmodus O'-O'''', der andere einen O-O'' Modus.

Wie sieht der erste seine Welt? Nehmen wir an, er macht das im Wesentlichen ebenso wie oben beschrieben, dann wird er aber diese ganze Situation intensiv auf sich beziehen, wird es so erleben, als wäre diese ganze Stadtinszenierung nur für ihn gemacht, er wird sehr darauf achten, dass er dem Unordentlichen klar seine Meinung sagt, dass man sich so nämlich nicht aufführen darf, wenn man unter die Leute geht, und er wird seine tendenzielle Langeweile als seine Schuld erleben, dass er diese wunderbare Stadt nicht mehr genießen kann. Das Lied auf seinen Lippen wird ihn mit Wehmut begleiten, und er wird sich schon ausdenken wie sein Leserbrief sein wird, in dem er über die Tatsache schreiben will, wie es sein kann, dass Leute einen Gewerbeschein bekommen, wenn sie nicht einmal Deutsch können. 

Der andere (Modus O-O'') wird die Stadt erleben als Beobachtungsfeld, Es ist seine Art, sein Sicherheitsbedürfnis durch möglichst große Nähe zu dem "Faktischen" zu befriedigen. Er wird im sprachsymbolischen Bereich noch "pingeliger" sein, er wird die ganze Stadt als Gestaltung oder auch als Miss-Gestaltung erfahren, und er wird sich vornehmen darüber ein Buch zu schreiben.

Ist das jetzt klar, wie das mit der Wahrnehmungsintention läuft?