Die abstrakte Wahrnehmungstendenz
Die abstrakte Wahrnehmung geht aus von der Vorstellung, dass es existentielle Konstante gibt, die das menschliche Dasein in seiner grundsätzlichen Qualität ausmachen. Es gibt für das Menschsein unerlässliche Bedingungen, die in irgendeiner konkreten Weise vorhanden sein müssen, oder eben vorhanden sind, um menschliches Leben zu sein.
Es gehören dazu äußere Elemente wie Jahreszeiten, Tag und Nacht, Kälte und Wärme, Trockenheit und Nässe, Wasser und Land, der Boden auf dem man steht und ruht, das Feld, welches Nahrung hervorbringt, das Feuer und der Sturm usw. Es gehören dazu auch körperliche Voraussetzungen: sich bewegen können, atmen, schlafen, wachen, sich verletzen, die Haut, Nahrung aufnehmen, Sinneseindrücke, Sexualität, altern, usw. Psychisch/geistige Voraussetzungen: lachen, weinen, denken, "sich fühlen", innen-außen, usw. Soziale Voraussetzungen: Eltern, Kinder, Gemeinschaft, Regeln, Austausch, Kommunikation, usw., usw.
Alle diese existentiellen Konstanten machen das menschliche Leben aus, sind aber in jedem Augenblick immer wieder neu und anders. In jeder Minute konkretisieren sich diese existentiellen Konstanten in einer neuen Gestalt. Normalerweise erleben wir die existentiellen Konstanten erst dann, wenn sie als etwas Besonderes in Erscheinung treten, wenn ihre Konkretion unerwartet, vielleicht bedrohlich uns entgegentritt. Schmerzen, Unwetter, "keine Luft kriegen", aber auch sich streicheln, den Hunger stillen, sind Konkretionen, die wir wahrnehmen. Wir haben ein selbstverständliches Wissen darum, dass wir müde werden können, dass der Tag zu Ende geht, dass der Wind uns ins Gesicht bläst, dass nach dem Winter das neue Grün kommt. Dieses selbstverständliche Wissen, dieses bewusste oder unbewusste Wissen von unserem Sein in dieser Welt, bezeichne ich als die abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Die existentiellen Konstanten sind nicht historisch-gesellschaftlich. Da sie als unabdingbare Qualität zum Menschsein dazugehören (auch wenn z.B. ein Mensch behindert ist, definiert er sich dennoch über das "normale Menschsein"), haben alle Menschen Zugang zu diesen existentiellen Konstanten, seien es Ureinwohner von Australien, ein New Yorker Dandy, ein Steinzeitmensch oder man selbst. Über diese existentiellen Konstanten "verstehen wir uns", auch ohne Sprache, und wissen genau, dass wir anders sind als andere Lebewesen.
Historisch-gesellschaftliche Unterschiede betreffen die kulturellen Konkretionen. Jede Gesellschaftsform entwickelt einen eigenen Zugang zu diesen existentiellen Konstanten und dadurch sieht es so aus, als gäbe es große Unterschiede. Die Konkretion von Freude sieht in Afrika anders aus als in Schweden, die Freude "selbst" ist die gleiche. Hier sind auch die Lösungen für die "großen Fragen" der Menschheit zu sehen: die Vorstellungen über Tod, und Leben, Jenseits und Diesseits, Geist und Materie, haben in ihrer Mannigfaltigkeit in der kulturellen Konkretisierung ihren Ort.
Auch im Laufe des Erwachsen-Werdens und des Alterns verändern sich die existentiellen Konstanten, Körpergröße und Kraft, Abhängigkeiten und Selbstbestimmung, auch der Zugang zu den Sinnen und dem eigenen Leistungsvermögen variiert im Laufe des Lebens. Wann diese Veränderungen eintreten, und welche gesellschaftlichen Rollen damit verbunden sind, ist wieder eine Frage der Kultur und damit verknüpften Konkretionen.
Die existentiellen Konstanten sind außerordentlich vielfältig. Das geht vom 'Jucken der Haut' über das 'Betätigungsfeld', über das 'sich Nähern', über das Wissen, dass wenn ich die Augen aufmache, dass ich dann 'etwas sehen' werde bis hin eben zu den "letzten Dingen", Vergänglichkeit und Tod. Auch die Selbstverständlichkeit der anderen Wahrnehmungsebenen und -tendenzen gehört dazu: selbstverständlich habe ich Sinnesorgane, kann mich bewegen, habe 'Gefühle', 'kenne mich aus', habe meine 'eigenen Gedanken', kann kommunizieren, weiß um die Verhältnisse, in denen ich mich befinde und - last not least -, bin mir über die Selbstverständlichkeit meines Daseins bewusst. Ich erfahre 'natürlich' die Dinge um mich herum, habe meine Vorstellung von der Welt und meiner Position darin, ich habe die Fähigkeit eigene Gedanken auszudrücken und einen anderen Menschen damit zu erreichen und lebe völlig selbstverständlich in einer Gemeinschaft. (Es gibt 'natürlich' Abweichungen von diesem existentiellen Konstanten-Wissen, diese sind aber autobiografischer Art und gehören nicht zum 'allgemeinen Menschsein'.)
Auch die sogenannten "abstrakten Begriffe" haben hier ihren Ort: Freiheit, Gerechtigkeit, Pflicht, oder was auch immer, sind existentielle Konstante, sie sind über Sprachsymbolik und kulturelles Netz jeweils gesellschaftlich angefärbt in unserem Begriffsfeld verankert. Z.B. 'Freiheit': Wir können uns ohne genetischen Zwang frei bewegen, müssen uns in jedem Augenblick immer wieder neu entscheiden für Handlungen, deren Konsequenzen wir nie voraussehen können, denn sonst wären wir nicht "frei". Die gesellschaftliche Anfärbung von Freiheit kann dann kantisch sein oder auch liberal, oder auch mafios. Das kommt dann ganz auf den Kontext (indexalische Wahrnehmung) an.
Die begriffliche Wortsprache hat in besonderer Weise die Möglichkeit Abstrakta "zur Sprache zu bringen", muss diese dann allerdings in ein zeitliches Schema von Aufeinanderfolge umformulieren. Damit wird die zeitliche Dimension der Wahrnehmung besonders betont. Die Bildsprache hat in den bildnerischen Variablen die Möglichkeit, Abstrakta in ikonisierter Form (erkennbare individuelle Bildelemente - Zeichen/Superzeichen -) darzustellen. Ein gemalter Löffel weist konkrete Merkmale auf im Gegensatz zum Wort 'Löffel' ('spoon', 'couillére'), welches als Wort überhaupt keine "Ähnlichkeit" mit dem Gegenstand hat. Wir müssen im Kopf dieses Wort ikonisieren, d.h. ikonische Bilder, die wir von dem Gegenstand gespeichert haben, müssen mit dem Begriff verknüpft werden. Erst dann 'bedeutet' das Wort etwas für uns. Allerdings kann nun jeder Mensch diesen Löffel ikonisieren wie er will, jeder von uns hat einen anderen Löffel vor seinem "geistigen Auge", wenn man dieses Wort hört.
Beim Bild wird über das zeitlich-räumliche "Moment" der Wahrnehmung, die meditative Komponente der Wahrnehmung aktiviert. Das "Allgemeine" wird allerdings in der Regel durch die Konkretion zugunsten des "Besonderen" reduziert, motivliche Formen (im Sinne der Aussageebenen) dominieren über den abstrakten Inhalten, die durch die Variablen zum Ausdruck kommen. Dies wird schon dadurch betont, dass man ein Bild immer konkret anschauen muss, um dessen Inhalt zu erfassen, ein Buch kann man auch weglegen und darüber "nach"-denken. Dennoch kann ein Bild sehr wohl und seht grundsätzlich Abstraktes sichtbar machen, wei wir im Verlauf der Überlegungen sehen werden.
In der Unterschwelligkeit der abstrakten Elemente der (Bild-)Sprache kommt aber auch ein ganz Wesentliches zum Tragen: Durch das sich in der Wirklichkeit orientieren müssen ist unsere Wahrnehmung insbesondere auf ästhetische und ikonische Wahrnehmung "spezialisiert", unsere beschränkte Verarbeitungsfähigkeit den Impulsen gegenüber, denen wir von Minute zu Minute ausgesetzt sind, macht es sinnvoll, wenn möglichst viele dieser Elemente als "bekannt", und deswegen als redundant eingestuft werden, und damit die Fähigkeiten des (Kurzzeit-)Gedächtnisses nicht überfordern. Hier findet auch die Abstraktionsfähigkeit ihren Sinn: Sofort entscheiden können, welche Eigenschaften relevant sind, welche unrelevant. "Auf das Wesentliche reduzieren" heißt nicht, auf das Wesentliche der Sache reduzieren, sondern auf das Wesentliche der Sache in Bezug auf meine Existenz.
An den Unterschieden zwischen Schriftsprache und Bildsprache (zeitliche bzw. räumliche Organisation der Syntax) sehen wir schon, dass jede Sprachform über die ihr eigene Gesetzmäßigkeit bestimmte existentielle Konstante mehr oder weniger adäquat zum Ausdruck bringen kann. Jede Sprachform hat die ihr eigenen Variablen, die als Äquivalente zu den existentiellen Konstanten denkbar sind. Hell - dunkel Kontraste (z.B. Tag-Nacht) sind mit dem Bild sehr genau darstellbar, doch mit der Wortsprache eher nicht. Laut - leise (flüstern-schreien) wiederum ist mit gesprochener Sprache und mit Musik gleichermaßen ausdrückbar, dagegen nicht mit dem Medium des Bildes. Rhythmus (Herzschlag) kann mit Musik, aber auch mit dem Versmaß der Dichtung dargestellt werden. Wir kennen alle ganz genau, wie schwierig es ist, einen Weg mit Worten zu beschreiben gegenüber der Selbstverständlichkeit eines Plans.
Die sprachlichen Variablen sind von Sprachform zu Sprachform unterschiedlich, es gibt Überschneidungen, wie z.B. das Phänomen des Rhythmus gezeigt hat, aber es gibt auch sehr spezifische Variable, die in keiner anderen Sprachform auftauchen. So ist erklärlich, dass es eine relativ große Menge an Sprachformen gibt, da jede in irgendeiner Weise notwendig ist, um bestimmte existentielle Konstante zum Ausdruck zu bringen. Die persönliche Affinität bestimmten Sprachformen gegenüber kann ein Zeichen dafür sein, mit welchen existentiellen Konstanten man besonders 'verbunden' ist.
So ist dann ein Kernstück der Überlegungen zum Abstrakten aus dem Blickwinkel der zeichenkritischen Theorie, dass die existentiellen Konstanten in den Variablen der jeweiligen Sprachformen ihre Äquivalente haben. Diese können zwar nicht als Abstrakta direkt gelesen werden, da sie ja bereits in einer Konkretion der jeweiligen Sprachform vorliegen, aber wir erfassen die abstrakte Wertigkeit der jeweiligen Variablen und können diese der entsprechenden existentiellen Konstanten zuordnen. Dies geschieht in der Regel (wenn keine intendierte abstrakte Rezeptionstendenz vorliegt) ebenso 'unbewusst', wie die Erfahrung der abstrakten Wahrnehmung selbst, und dennoch haben wir mit dem Empfinden der 'Stimmigkeit', mit der plötzlichen Überzeugung, dass es sich hierbei um etwas 'Richtiges' handelt ein Indiz dafür, dass wir die abstrakte Ebene unserer Wahrnehmung erfahren.
Eine Schlussbemerkung: Etwas Eigenartiges ist sicherlich bei dieser Vorstellung: Die relative Begrenztheit der Variablen der unterschiedlichen Sprachformen auf Grund ihrer Ankopplung an Materialien und Techniken in Relation zu den existentiellen Konstanten heißt auch, dass möglicherweise die sprachlichen Variablen nicht alle existentiellen Konstanten "abdecken" können. Es kann sein, dass es existentielle Konstante gibt, die nur in Form von Analogien, in Form von Allegorien sprachlich vermittelbar sind. Die geschriebene/gesprochene Sprache gibt uns ja bereits Modelle dafür, wie durch Symbolisierungen (also konventionelle Zeichen) bestimmte Bedeutungsgehalte dennoch vermittelt werden können, auch wenn die sprachlichen Variablen dies gar nicht zulassen. Ich kann mit der Wortsprache auch einen Raum beschreiben, und dennoch wird dieser Raum anders 'aussehen', als wenn ich ihn auf einem Bild sehen würde. Wir können hier an Verfilmungen von Romanen denken, wo die Räume in fast jedem Fall ganz anders aussehen, als wie wir sie uns 'vorgestellt' haben.
Auch im Bild ist dies möglich: Die Vorstellung von Dreidimensionalität ("Zentralperspektive") ist ein konventionelles Konstrukt, welches als bildnerische Variable nicht auftaucht, auch wenn eine Schräge auf Grund unserer ästhetisch-ikonischen Wahrnehmung TIEFE symbolisieren kann. Interessant, dass wir das dennoch als 'richtig' dargestellt empfinden.
Möglicherweise ist es auch von hier aus verständlich, dass immer neue Medien geschaffen werden, die ihren Reiz dadurch haben, dass sie in der Lage sind, bisher noch nicht umsetzbare existentielle Konstante darzustellen.