Vorbemerkung:

Die so eingerückten Textstellen, sind Gedankensplitter, die einem "einfallen" beim Untersuchen des Werkes. Diese Einfälle werden nebenbei notiert, sie sind die wichtigsten Elemente für eine spätere inhaltliche Arbeit an der Bedeutungsstruktur des Bildes. 

Um den Text ohne alle weitere Strukturmerkmale zu lesen kann man den Haupttext als Fliesstext hier abrufen.

Eine weitere Vorbemerkung ist notwendig: Ich habe im Laufe der Jahre dieses Bild mindestens 10x eingehend mit Schülern und Kursteilnehmern analysiert. Das Erstaunliche war, dass trotz meiner Lenkung, und deswegen trotz meiner ins Spiel gebrachten eigenen Rezeptionsintention, jedes Mal das Bild neue Aspekte offenbarte, die immer wieder von Neuem zeigten, wie sehr dieses "unscheinbare" Bild oszilliert zwischen einer genussvollen ästhetischen Rezeption und einer tiefergehenden nur über das Indexalische verständlichen Sichtweise. 


Bildanalyse Henry Matisse, Corbeille d'oranges als subjektive Analyse

 


Vorstellen des Werkes

1. Werkangaben:

- Gattung und Technik  - Künstler, Titel des Werkes, Entstehungsjahr, Material, Maße, Ort der Präsentation. - Situativer Bezug der Betrachtung. (Art und Maße der Abbildung).

2. Kurze Beschreibung dessen, was man auf dem Bild sieht, bzw. was das Kunstwerk darstellt.

Das Bild zeigt einen Korb mit Früchten auf einem Tisch. Auf dem Tisch ist eine Tischdecke. der Tisch steht in einem Raum. Der Raum erscheint unbestimmt.

Vorüberlegungen zur eigenen Wahrnehmung 
 

3. spontane (vorläufige) Assoziationen und Anmutungen

4. Vermutungen zur Aussageebene (ebenso vorläufig) 5. Vermutungen zu den Darstellungstendenzen - zur Darstellungsweise (immer noch vorläufig) 6. Reflexion des eigenen Bezuges zu dem Werk. Erste Überlegungen, welches Interesse man gegenüber diesem Werk hat. Versuch, den Untersuchungsgegenstand bezüglich des bisher Beschriebenen zu präzisieren.
Einstieg in die "subjektive Analyse"

7. Untersuchung der motivlichen Syntax.

Siehe auch Lektion 9

Das Figur-Grund Verhältnis erscheint unklar. Warum kein Schatten? Was "schwebt"? 
Ein Versuch, die Verhältnisse, die Formen, die Farben auf konkrete, bekannte Erscheinungen zu beziehen, ist kaum möglich. Die Darstellung der motivlichen Syntax geht eigentlich nur im Rekurs auf die bildnerischen Variablen. Allzu ungenau erscheinen die realen Raumbezüge, sodass hier schon deutlich zu werden scheint, dass das eigentliche Motiv die "Malerei" ist. 

Die herunterhängenden Blumensträuße erscheinen im Zusammenhang mit einem Stillleben "seltsam". 

Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bildelementen sind überall unklar: der Korb steht nicht auf der Tischdecke; die Tischdecke liegt nicht auf dem Podest; Das Podest steht in keinem erfassbaren Raum; Der Raum hat keine Dimension. Dem Betrachter wird kein Ort zugewiesen, von dem aus er die Szene betrachtet.

Zwei Stillleben konkurrieren miteinander: Der Korb und die Blumensträuße, das aus dem Korb heraushängende Blatt erscheint so etwas wie ein Verbindungsglied. 

Die "motivliche Syntax" der O'' Ebene deckt sich mit der bildnerischen Syntax, ist diese doch eben das motivliche Feld auf der O''-Ebene.

In diesem Zusammenhang könnte es auch interessant sein, dass das "Tischtuch" so gar keinen plausiblen Zusammenhang mit dem Tisch hat.

8. Untersuchung der bildnerischen Syntax an Hand der bildnerischen Variablen.


Beides kann als ein Hinweis auf die Intimität des Themas gewertet werden. Es ist erst zumindest keinerlei Monumentalität bei diesem Bild angelegt, trotz dieses eigentümlichen Sockels, der eine unbestimmbare Dimension vorgibt.

Ölfarbe war in der damaligen Zeit das klassische Malmaterial.

Aus dieser Beschreibung geht hervor, dass das gestische Element zwar nicht das Bild beherrscht, dass jedoch die Schnelligkeit der Malweise und die sichere Beherrschung der Formzusammenhänge das gestische Element für die Rezeption spürbar werden lassen.

Ein Aufbau in Schichtung ist somit zu erkennen, darin kann man eine persönliche Entscheidungsrichtung des Künstlers ablesen. Insofern doch eine O'-Dimension? Die Übermalung deutet noch auf etwas anderes hin: Die Überlegungen von Matisse müssen dahin gegangen sein, diesen hellen Farbton dem darunterliegenden Farbton vorzuziehen. Dadurch wird der Hell-Dunkel Kontrast verstärkt, der dem Bild schon seinen Charakter verleiht. Nicht die gestische Spur kommt somit deutlich zum Tragen, wenn sie auch zu spüren ist, sondern die "geistige" Spur, als Weg der Gestaltung.


Die Elemente des 'Korbes' bekommen dadurch etwas Individuelles und gleichzeitig Leuchtendes.
Es fällt somit eine Schichtung dieser Elemente auf: Im Vordergrund (wenn man das so nennen kann) dominiert das Element Punkt, verbunden mit einer ausgeprägten Flächigkeit. Im Mittelgrund (nennen wir den Bereich des Früchtekorbes einmal so) tritt das Lineare zum Flächigen deutlich hinzu (die Früchte selbst nehmen das Motiv des Punktes noch einmal auf in Ihrer Rundheit), und wird dann im Hintergrund zum wesentlichen Bildelement. Insgesamt ist es jedoch auf der Ebene der Gestalterischen Arbeit eher unangemessen, von diesen drei Plänen zu sprechen, der Gesamteindruck des Bildes ist zu stark vom Flächigen - Zweidimensionalen her geprägt.

Dadurch entsteht eine Ambivalenz: Linie und Fläche/Grund zu Linie und Punkt/Figur. Die wichtigsten "Figurelemente", nämlich Früchtekorb und Blumenornament auf der Tischdecke sind wesentlich durch die Linie bestimmt. Auch tritt hier der Charakter des Punkthaften am deutlichsten hervor. Es erscheint auch so, dass der untere Teil des Bildes durch Flächen, der obere durch Linien charakterisiert ist. 

Die Konturierung dient dabei eher zur Abgrenzung denn zur Bestimmung des Umrisses. Figur und Grund sind als gleichwertig zu betrachten. 

Eine Dreigliederung scheint sichtbar zu werden: 1. Früchtekorb, 2. Tischdecke; 3. Sockel und "Hintergrund". Das Lineare ist am stärksten vertreten im Hintergrund, ebenso das Flächige. Beim Korb und bei der Decke sind Linien und Punkte, bzw. kleinteilige Flächen charakterisierend. 

Die Gleichwertigkeit zwischen Figur und Grund betont den O''-Aussage-Charakter. 


dies könnte als Lesehinweis aufgefasst werden: Vom Bildsubjekt Früchtekorb taucht man an dieser Stelle zum ähnlich verdichteten Hintergrund, kommt dann über den Bogen der rechten Hintergrundsformation zu dem stark leuchtenden in hellem Krapp gehaltenen 'Sockel'-Bereich, der dann wieder zu dem neuerlichen Verdichtungszentrum der "Blumen" führt. Hier allerdings führt die Bewegung nicht wieder zurück. Die Richtung der Blumen weist nach unten, und irgend wie kommt man jetzt in den Sog, der rechts unten ins Leere führt...

Dieser Rhythmus scheint eine nach oben gerichtete Vertikale zu betonen. gleichzeitig zielt der Rhythmus auf die Mittelachse. Dort ruhen die Rhythmen in der hell-dunkel gegliederten Mittelsäule.
Hier scheint der Rhythmus eine Bewegung von links nach rechts zu unterstützen, die auch schon bei den Verdichtungen sichtbar geworden ist. Die Rhythmen im unteren Bildbereich scheinen eher unterschwelligen Charakter zu haben. doch ist auch hier eine Bewegung von links nach rechts festzustellen.

Über den Hell-dunkel Kontrast wird das Auge auf die große Fläche des 'Tischtuches' gelenkt, dem offenbar eine besondere Bedeutung im Zusammenhang mit dem Früchtekorb zukommt. Dieser Kontrast ist der am wenigsten "malerische". Die kräftige Polarisierung wird durch den Hell-Dunkel Kontrast bewirkt. "Irgendetwas" steht in großem Kontrast zueinander.
Der Einsatz des Komplementärkontrastes, der in dem Bereich des Korbes besonders intensiviert erscheint, kann dahingehend verstanden werden, dass eine ständige Wechselbeziehung besteht zwischen dem Inneren des Korbes und dem Äußeren. Das Gelb ist von der Farbpsychologie her eine besonders aktive, strahlende Farbe, das Violett dagegen eine Farbe, die eher Widersprüchliches in sich trägt.

Der Simultankontrast legt das Gewicht auf die Rezeption (O'''), was unserer ursprünglichen Vermutung zuwiderläuft. Andererseits kann man dieses Farbphänomen auch dahingehend interpretieren, dass damit eine ganz enge Verflochtenheit der Farbflächen erreicht wird. Dies würde mit dem geschilderten Figur-Grund Phänomen korrespondieren.

dadurch kommt es zu einer Dramatisierung des Früchtekorbes. Zwei Flecken sehr kalten Gelbs ergänzen sich über eine Schräge, die parallel verläuft mit der Schräge der 'dunkelblauen Wand'. 
auch dies unterstützt die Betonung des Bildsujets, allerdings bindet es dieses über das Gelb auch wieder in den Gesamtkontext mit ein. Interessanterweise erscheinen die Untermalungen im Bereich der 'Tischdecke' auch in einer höheren Leuchtkraft als die Übermalung. Sind die Blumen auf der Tischdecke entgegen der Erwartung eigentlich sehr trübe, finden sie ihren farbigen Ausdruck eher über die "Abfärbung" durch den Grund, und dazu noch durch den der Untermalung.
Das mag auf eine Vermittlerfunktion der Tischdecke zu verweisen. 

Dies ist wieder eine neuerliche Betonung des Korbes. 


Dieses "Gerüst" hat für die Statik des Bildes eine entscheidende Funktion. Sie gibt dem Bild eine bestimmte Ruhe. Die Kreuzform hat selbstverständlich ganz deutliche kulturelle Bezüge, Das "Opferlamm" könnte hier der Früchtekorb sein. 
Damit wird die fallende Richtung ins "Nichts" unterstützt.

Diese Schrägen werden in vielfältiger Weise wieder aufgegriffen: in der linken "Sockelschräge" des Tischtuchs, in den beiden spielerischen Schrägen im senkrechten Feld in der Mitte oben und auch daneben im waagrecht bestimmten Feld. Besonders die wuchtige Schräge des Hintergrunds zieht nochmals tüchtig nach unten. 

Im Bereich der Tischdecke und des Früchtekorbes geben diese bogenförmigen Linien dem Bild etwas in die Höhe Strebendes. Dies wird relativiert durch den fallenden Bogen rechts oben. Dieser führt wieder in den "Fallpunkt".
Dies lässt noch einmal den Früchtekorb sehr deutlich ins Zentrum rücken (wo er ja schon lange ist), gibt aber diesem dann auch gleichzeitig einen entscheidenden Halt. dies ist deswegen notwendig, da der Korb sonst eigentlich ins Rutschen kommt: motivlich gesehen rutscht er dem Betrachter leicht entgegen, bildnerisch gesehen hat er diese fallende Tendenz nach rechts unten, ausgelöst durch die Tischformation, die sich in der Hinterkante des Tisches und in der Binnenkomposition des Korbes wiederfindet. Zur Binnenkomposition des Korbes siehe Skizze 4.

In Bezug auf "Nähe" erscheint darin eine Steigerung: Zentrum ist der Korb, dann kommt die Tischdecke, dann das "Außen". Diese "Dreiheit" lässt sich vielleicht auch lesen wie Mensch-Kultur-Unsicherheit in der Zeit. 

Der Mensch in einer nicht mehr tragfähigen Kultur? Das Bedrohliche der Zeit?

Es kommt dabei zu einer weiteren Unterstützung der "fallenden" Richtung.


9. Darstellung der Zusammenhänge von bildnerischer und motivlicher Syntax. (Wie ordnet sich das motivlich Gezeigte dem bildnerischen Zusammenhang zu? Welche Wechselwirkung besteht zwischen Motiv und Bildgestaltung? Wie wird die Wahrnehmung des Motivs durch die Bildgestaltung beeinflusst?)

Hier werden sicherlich nur die ganz wesentlichen, und augenfälligsten Zusammenhänge genannt werden können. 

Das Thema verschiebt sich immer mehr auf eine O''''-Ebene.

10. Auf Grund der Ergebnisse unter 7. und 9. Überprüfung des jetzt erfassbaren Aussagemodus. und der damit verbundenen Intention, die hinter der Aussage sichtbar wird.

Man kann den Begriff der Aussageintention auch auf das Bild selbst beziehen, und das erscheint auch vernünftig. Das, was der Künstler "bewusst" uns mit diesem Bild sagen wollte ist sowieso nie herauszuarbeiten. Deswegen können wir den Begriff der "Intention" auf das hin anwenden, was wir als Rezipienten - und eben auch mit all unseren Möglichkeiten - erfassen können. 

11. Auf Grund der Ergebnisse unter 8. und 9. Untersuchung der jetzt erfassbaren Darstellungsweise und der Unterscheidung von denotativen und konnotativen Anteilen. Formulieren der Bedeutungs- bzw. der Bezeichnungsstruktur. (Zuordnung zu eher sigmatischen, bzw. eher semantisch darstellbaren Darstellungsweisen.)

Nehmen wir einmal an, ein Betrachter in der damaligen Zeit (Picasso?) hätte diese Beunruhigung auch spüren können, so hätte er dieses intuitiv auch im Rahmen der indexalischen Rezeptionstendenz lesen können. Das Bild wäre für ihn "klar". 

Anders der Betrachter heute: Durch die andere Zeitepoche in der wir leben, (oder ist es von der Grundstruktur her immer noch die Gleiche??) haben wir den direkten Zugang zu der Zeit vor dem 1. WK verloren. Wir müssen uns über Quellenstudium erst wieder Einlass dazu verschaffen. Dieses ist ein sprachsymbolisches sich Herantasten, "übersetzt" durch so-und-so-viele Historiker, Kunstwissenschaftler und andere. Über diesen Prozess, der selbstverständlich wieder Tiefensymbolisches, Ikonisches ("gelernt ist gelernt"), und ganz viel Sprachsymbolisches durch eben diese Spezialisten mit ins Spiel bringt, erschließt sich heute die indexalische Darstellungstendenz wieder über symbolische Stränge. Wenn man über das entsprechende Zeitgeschichtliche Wissen (Zeit vor dem 1. WK) nicht verfügt, bleibt einem diese Ebene verschlossen und man kann allenfalls mit heutigem Zeiterleben diese Informationslücke füllen. Wir sind bei der Betrachtung der Bildzusammenhänge letztlich auch so vorgegangen. 

Einen komplexeren Einblick auf dem Gebiet der drei "Wissensfelder" Biografie, Kunstgeschichte und Zeitgeschichte können sicherlich den Blick auf das Bild noch entscheidend verändern. Dies ist der Sinn, weswegen ich die hier vorgestellte Methode "subjektive Analyse" nenne, da sie immer noch in die eine oder andere Richtung hin qualifiziert werden kann. 

12. Welche Hypothesen ergeben sich nun in Bezug auf eine mögliche Bezeichnung/Bedeutung  bzw. auf einen verstehbaren Zusammenhang des Bildes? Auf welche bisherigen Ergebnisse stützt sich die Hypothese? Wie definiert sich nun das eigene Interesse bezüglich des Bildes?

13. Darstellung des vorläufigen Endergebnisses. Aufzeigen von möglichen Anteilen der eigenen Rezeptionsintention, die die Analyse mitbestimmt haben können.

12. und 13. und auch 14. können in einem Text selbstverständlich ineinander übergehen, möglicherweise ist eine gesonderte Beantwortung gar nicht mehr nötig, hat man doch alles im vorigen Text bereits entwickelt. Dennoch kann man ein "kurzes" Fazit ziehen und Perspektiven aufzeigen. Auch die Reflexion der eigenen Position, und möglicherweise die damit einhergehenden Veränderungen im Verlauf der Analyse können wichtig sein. 

14. Welche weiteren Fragen öffnen sich?