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Vorüberlegungen:

Es handelt sich bei der Arbeit um ein Ölbild von Henry Matisse. Titel: Corbeille d'oranges, 1912/13, Öl auf Leinwand; 94x83 cm; Paris, Picasso Museum (Schenkung Picasso). Für die Untersuchung liegt ein Großdruck, Offsetdruck vor, in den Maßen 54x48cm, (Neckarverlag © 1988, Copyright VG Bild-Kunst, Bonn). Die Bilduntersuchung findet anlässlich der Erarbeitung einer Musteranalyse statt.

Das Bild zeigt einen Korb mit Früchten auf einem Tisch. Auf dem Tisch ist eine Tischdecke. der Tisch steht in einem Raum. Der Raum erscheint unbestimmt. Das Bild erscheint auf den ersten Blick fast ein bisschen langweilig. Die Farben sind fröhlich, interessant ist das Helle gegen das Dunkle. der Hintergrund irritiert. Matisse zeigt hier wohl eher keine Auseinandersetzung mit der Realität. Die Realität bestimmt allerdings den eigentlichen Motivbereich. Man kann die erkennbaren Gegenstände nicht eindeutig einander zuordnen. räumliche Bezüge bleiben unklar. Befindlichkeitsäußerungen sind auf den ersten Blick eher nicht wahrnehmbar. Die künstlerische Gestaltung, also die Formulierung, tritt deutlich in den Vordergrund. Sie scheint das Thema zu sein. Also: Der Motivbereich "Stillleben" als Transportmittel für Fragen der künstlerischen Formulierung. 'Wirksamkeit' scheint eher auch nicht das Thema zu sein. Dafür ist das Bild zu still. Das Genre "Stillleben" lässt auch eine O''''-Vermutung zu: Auseinandersetzung mit kulturellem Netz.

Die ästhetische DT ist auf Grund der Farben, der Kontraste, der Flächenspannungen deutlich zu erkennen. Gestisches scheint sekundär, insbesondere zeigen die Ornamente auf der "Tischdecke" Spuren des künstlerischen Eingriffs. Diese DT scheint jedoch nicht thematisiert zu sein. Die tiefensymbolische DT wird deutlich in dem "gekippten Tisch" und der "Tiefe" nach unten, die beide in irgendeiner Weise Labilität andeuten. Ikonizität und Individualsymbolik scheinen sekundär, wobei die Ikonizität über die Abstraktion möglicherweise eine Rolle spielt. Die sprachsymbolische Darstellungstendenz ist möglicherweise über den Bezug zur Gattung "Stilleben" wichtig. Im Entstehungszeitraum des Bildes, 1912/1913, war das verwendete Vokabular durchaus "normal". Indexalität scheint ohne Belang: an keiner Stelle wird der Blick auf Hinterfragbares gelenkt, auf ungeklärte Kontextbezüge. (der unklare Raumbezug kann hier nicht gemeint sein, da dieser ja auf dem Bild zu erkennen ist, und somit der Bedingung des Indexalischen nicht entspricht). Die abstrakte DT scheint sehr zentral zu sein, ist es doch schon über die O''-Ebene thematisiert. Zentral erscheinen somit die ästhetische und abstrakte Darstellungstendenz, unterstützt, gegebenenfalls modifiziert durch Tiefensymbolik.

Für die eigenen weitere Untersuchung wäre z.B. die Frage nach dem Verhältnis von Motiv und Gestaltungsebene interessant, da dies als ein wesentlicher Punkt bisher sichtbar geworden ist. Dabei wird sich möglicherweise herausstellen, dass der Gestaltungsebene in Zusammenhang mit dem Motivbereich eine wesentliche inhaltliche Bedeutung (eventuell auch über Tiefensymbolisches) zukommt. Die Frage wird sich somit darauf konzentrieren, welche abstrakte Bezeichnung die Gestaltungsebene repräsentiert und zum anderen, welche Rolle der Motivbereich als identifizierbarer Anknüpfungspunkt dabei spielt.

Bildanalyse

Motivliche Syntax:

Auf einem roten, hohen Sockel, der am unteren Bildrand jäh emporsteigt, liegt ausgebreitet ein mit einem Blumenornament geschmücktes Tischtuch. Darauf steht eine Schale, eher ein Bastkorb, der fast so groß ist wie der Sockel oben. In dem Korb liegen eine nicht genau benennbare Anzahl von Früchten, möglicherweise Pfirsiche und Zitronen. Orangen werden eher nicht assoziiert. Zu den Früchten gehören eine Anzahl grüner Blätter und Zweige. Zwischen den Früchten erscheinen Hohlräume, die bei einem "normalen Liegen" von Früchten nicht vorhanden wären. Die Schale scheint zu schweben, einmal wegen des Neigungswinkels des Sockels, zum anderen wegen des fehlenden Schattens.

Das Podest mit dem Korb steht in einer Raumecke, deren Dimensionen nicht eindeutig erkennbar sind. Links im Bild scheint ein blauvioletter, dunkel gestreifter (oder sind es Falten?) Vorhang den Raum abzutrennen, Möglicherweise ist dahinter eine Fensteröffnung, die rechts von dem Vorhang als waagrechte Formation erkennbar ist. Ziemlich in der Mitte des Bildes, das Zentrum des Korbes betonend, ragt eine senkrechte Form empor, die extrem hell-dunkel gegliedert ist. Vielleicht ist es die Eckkonstruktion einer Veranda, denn rechts von dieser senkrechten Form erscheint schon wieder eine fensterartige, fast gitterartig abgetrennte Öffnung, ohne jegliche dazwischen vermittelnde Mauer. Eine intensiv dunkelviolette "Wand" zieht sich mit nur einer leichten Violett-Modifikation bis zum unteren Bildrand, welches den Eindruck vermittelt, als versänke der Sockel nach unten im Bodenlosen.

Die Tischdecke liegt eigenartig auf der Sockelplatte. Dort, wo die Tischdecke herunterfällt scheint sie keinen Bezug zu haben zu den tatsächlichen Sockelformen. Es ist kein leicht fallender Stoff, sondern hat eher den Charakter von einem steiferen Material. Die "Blumensträuße", die auf der Tischdecke zu sehen sind, hängen mit den Köpfen nach unten. Sie sind ohne ornamentale Struktur (wie das für eine Decke zu erwarten wäre) auf der Decke verteilt. Links neben dem Sockel und unterhalb der Tischdecke erscheint noch ein kleines Feld, in dem als einziges ein "Schatten" zu erkennen ist. 

Untersuchung der motivlichen Syntax bezüglich der anderen Aussageebenen:

Hervorstechende Merkmale für eine O' Aussage liegen eher nicht vor. (deutlich betonte Spurmerkmale, betonte Individualsymbolik, im Bereich von O'' fallen bestimmte Elemente ins Gewicht: besonders die durchaus intensive Farbwahl (Fauves; inwieweit dies im Jahre 1912/13 noch eine Rolle gespielt hat muss man getrennt untersuchen). Auch scheint die sehr einfache und doch komplexe Komposition mit ihren später zu erörternden Auffälligkeiten auf eine O''-Aussageebene hinzuweisen. Im Bereich von O''' sind bis auf die Farbigkeit, die aber zu diesem Zeitpunkt bereits ihre "revolutionäre" Allüre verloren hatte und zum Markenzeichen dieser Malergruppe gehört, keine Elemente zu bemerken, die eindeutig auf eine O'''-Aussageebene hindeuten würde.

Bei O'''' kann man im "verdoppelten" und dazu im "verkehrten Stillleben" auf der Tischdecke einen deutlichen Bezug zum kulturellen Netz ausmachen. In diesem Zusammenhang könnte das "Aufstrebende des Sockels aus der Tiefe" und die herunterhängenden Blumensträuße eine Auseinandersetzung mit kulturellen Prämissen signalisieren.

Einen appellativen Charakter, der eine Vermutung auf der O'''''-Ebene rechtfertigen würde erscheint bisher immer noch nicht.

Bildnerische Syntax:

Der situative Kontext scheint von der ursprünglichen Konzeption her auf private Rezeption hin angelegt gewesen zu sein ("aus dem Besitz von Picasso"). Auch heute scheint es noch auf diesen privaten Rahmen zu verweisen, wenn es sich in einem Museum befindet, das sich als 'Schenkung Picassos' ganz dieser Privatheit verpflichtet fühlt. Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass auch O''' und O''''' nicht gemeint sind.

Wir erfahren hingegen dieses Bild in einer Reproduktion, und damit seinem spezifischen Kontext entzogen. Es ist als Abbildung kleiner als das Original, die Farben bzw. deren farbrichtige Wiedergabe können so nicht überprüft werden, nach genauer Messung ist das Blatt in der Höhe eine Idee kleiner als das Original, dies erscheint jedoch unerheblich.

Die Dimension des Bildes ist relativ klein, es handelt sich um ein leichtes Hochformat. Das Format ist unauffällig.

Zur 'Spur' kann man sagen, dass es sich beim Trägermaterial um Leinwand (siehe Legende), und dass es sich um ein Ölbild handelt. 

Nur an ganz geringfügigen, unwesentlichen (?) Stellen (Früchtekorb, und links und rechts das Blumenfeld im Tischtuch) kann die Leinwandstruktur erkannt werden, der Farbauftrag ist so gehalten, dass er nicht in besonderer Weise als Spurelement in Erscheinung tritt. Dennoch erkennt man, insbesondere im Bereich einiger Früchte und besonders im Bereich der Blumen des Tischtuches den kräftigen, eindeutigen Pinselduktus, der die malerische Arbeit zum Teil als Primamalerei kenntlich macht. Dies wird (zwar in Übermalung) auch durch den erkennbaren, flächigen Farbauftrag auch wieder im Bereich des Tischtuches, aber auch in Hintergrundspartien deutlich. 

In diesen pastos-deckenden Farbfeldern schimmert an manchen Stellen die Untergrundsfarbe hervor, wie auch an den Rändern der flächigen Bearbeitung. Das Bild scheint zügig in zwei Hauptsitzungen fertiggestellt worden zu sein: in der ersten wurde die Komposition, die ersten Farbfelder und die skizzenhafte Bearbeitung der Formbezüge angelegt, in der zweiten dann die markanten Farbflächen.

Die Formelemente Punkt, Linie und Fläche sind allesamt wesentliche Bildfaktoren. In erster Linie erscheint das Bild sehr von der Fläche geprägt, doch sind auch die linearen Elemente sehr wichtig. Dies gilt insbesondere für den Korb selbst, in dem die Linien die Flächen deutlich konturieren.

Im Hintergrund erscheinen die Linien als gleichberechtigte bis dominante Elemente gegenüber den Flächen, lediglich im 'Mittelgrund' der Schale erscheinen die linearen Elemente als Formbegrenzungen. Die kleinteiligen Flächen sind hier dominant. Bei der 'Tischdecke' haben Die 'Blumen' eine dominierende Punktstruktur, verstärkt durch den Farbauftrag. Die in den 'Stielen' auftauchenden Linien ändern diesen Eindruck kaum.

das Flächige spielt im Bild eine wesentliche Rolle. Es taucht allerdings besonders in den Partien auf, die weniger von der Figur her bestimmt sind. 

Bei den Früchten wird der Figurcharakter durch die Konturierung verstärkt, was jedoch dazu beiträgt, dass hier auch kein ausgesprochener Grund in Erscheinung tritt. Vielleicht in den "leeren" Stellen. Im Ganzen ist eine Gleichwertigkeit zwischen Figur und Grund zu erkennen.

Eindeutig verdichtet erscheint das Bild im Bereich des Korbes. Dies ist Effekt der bereits geschilderten spezifischen Behandlung von Form. Ein zweiter Verdichtungspunkt scheint im Bereich der beiden zentralen Blumenfelder der Tischdecke zu sein. 

Der Hintergrund erscheint im linken oberen Bereich sehr stark linear verdichtet zu sein.

Die Gesamtproportion des Bildes tendiert leicht nach oben. Verstärkt wird dies durch die weit nach oben verlagerte Schale, als dem Bildsubjekt. Relativiert wird diese Vertikale durch die kreuzende Horizontale des Korbes. 

In der Vertikalen ist der Rhythmus durch die große untere Hälfte charakterisiert, die dann zu dem feinteiligen Spiel der Früchte im Korb führt, um dann in der vielfältig rhythmisierten Flächigkeit des 'Hintergrundes' zu münden. In der Horizontalen sind rhythmisierende Elemente im Hintergrund zu finden: die enge, leicht schräge Gliederung der 'Vorhangfalten', die über die waagrechte Linienführung direkt mit den 'Fenstergliederungen' verbunden werden. Im unteren Bereich des Bildes erscheinen auch rhythmisierende Flächen. Die Rhythmisierung betont die vertikale Mitte.

Das Bild erscheint sehr kontrastreich. Der Hell-dunkel Kontrast ist durch die Fläche des Tischtuches sehr dominant. Besonders rechts, wo das Tischtuch mit dem Dunkelblau des Hintergrundes zusammentrifft. 

Diagonal dazu korrespondiert eine entsprechende Kontrastpartie. Im oberen Bildteil ist eine heftige Hell-dunkel Kontrastierung zu erkennen. Im Früchtekorb selbst sind die Hell-dunkel Kontraste durch die schwarze Konturierung intensiviert.

Unter den eigentlichen Farbkontrasten bekommt der Komplementär Kontrast eine besondere Stellung: Im Früchtekorb korrespondiert das Orange mit dem Blau des Hintergrundes, das Grün korrespondiert mit dem Rot von Sockel und Hintergrund, wobei das Türkis im Früchtekorb den Violett-Akzent betont. Die Gelbtöne werden ebenfalls im Violett aufgefangen. Diese Art, den Komplementärkontrast einzusetzen, führt auch direkt zum Simultankontrast: das leichte Rosa des 'Tischtuches' wird akzentuiert durch die Grünbestandteile, das Gelb wird durch die violett Anteile des Rots und des Blaus dramatisiert. Der Warm-kalt Kontrast erscheint dominant im Früchtekorb: Türkis und Rotorange sind die absoluten Pole dieses Kontrastes.

Der Qualitätskontrast hat auch seinen deutlichsten Schwerpunkt im Früchtekorb: In den verschieden angefärbten Grauwerten besteht der Qualitätskontrast zu den am leuchtendsten in Erscheinung tretenden Früchten. lediglich der gelbe Fleck auf dem 'Tischtuch' hat eine entsprechende Leuchtkraft.

Was die Formkontraste anbelangt, so ist hier das Rund im Zusammenhang des Früchtekorbes in deutlichem Kontrast zu dem Geraden der übrigen Bildflächen. Eine Ausnahme macht hier die 'Tischdecke'.

Das Runde ebenso wie das Gerade erscheint hier gebrochen. Im Korb wiederum erscheinen die Formkontraste am intensivsten.

Richtungskontraste erscheinen in dem Spiel der Senkrechten und Waagrechten, des Korbes mit dem Sockel, welche aufgegriffen wird im hinteren oberen "Wandbereich". Die Blumen zeigen nach "unten", dies lindert die Wucht des emporsteigenden Sockels, und wie eine vektorielle Kraftablenkung mildern die beiden Schrägen, die im Tischtuch sichtbar werden, ebenfalls den Schub des Sockels. Und im entstehenden Kraftfeld zwischen diesen beiden Schrägen "schwebt" der Korb, leicht und fast immateriell, trotz seiner üppigen Fülle. Und das umliegende Blauviolett zieht alles ins Bodenlose nach unten.

Der Darstellungskontrast vollzieht sich vom Zentrum nach außen: Der gesamte Rand erschließt sich als Gegenständliches nur vom Zentrum her. Nur wo das Tischtuch links hinter der Bildkante verschwindet, erscheint motivlich Bestimmtes auch am Rand.

Zur Komposition: Vom linearen System her fällt eine senkrecht - waagrecht Tendenz auf. Eine umspielte Mittelsenkrechte durchschneidet kompositorisch das Bild, dazu die ebenfalls nur in Andeutung nachvollziehbare Waagrechte, die durch die beiden Außenpunkte der Ellipse des 'Korbes' gebildet werden. Dadurch wird so etwas wie ein "Kreuz" gebildet. Der Früchtekorb befindet sich im Schnittpunkt dieses "Kreuzes".

Die Waagrechte kommt ausgeführt sonst nur noch in den kurzen Waagrechten links oben und in dem kurzen Stück Tischtuch senkrecht (!) darunter, fast am unteren Bildrand vor. Senkrechte allerdings gibt es in Hülle und Fülle. Aufsteigend vom 'Sockel' übergehend in die Formationen des Hintergrundes. Fallend erscheint diese Senkrechte im Bereich der 'Tischdecke'. Die Senkrechte wird modifiziert in den leichten Schrägen des 'Vorhangs', mit einer fast symmetrischen Gegenbewegung in der Hintergrundsformation "Ecke". Fast senkrecht zu dieser fällt die Schräge des Tisches nach rechts weg.

Zwei markante Schrägen bestimmen das Bild: die fallende Schräge im oberen rechten Feld, und dann die "steigende" Schräge des Tischtuches, die dann wieder durch das "Herunterfallen" des Tischtuches abgestumpft wird. Dort wo die Schräge des Tischtuches sich mit der Senkrechte des Sockels trifft ist die waagrechte Bildmitte.

Bogenförmige Elemente unterstützen die runden Elemente der Früchte und des Ellipsoids 'Korb'. Die Tischkante zieht sich von links Mitte des Bildes über das herausragende Blatt des Früchtekorbes weiter über verschiedene Formelemente zum Tischdeckenrand rechts. Darüber umspielt dies ein gegenläufiger Bogen, der durch die Grenze zwischen Blau und Rosa des 'Fensters' gebildet wird. Bogenförmige Elemente erscheinen auch in der Tischdecke.

Die beiden schon beschriebenen Ellipsenpunkte sind auch gleichzeitig die Punkte der höchsten linearen Bündelung. Eine weitere Verdichtungsstelle befindet sich im Schnittpunkt zwischen Korb und linker Begrenzung der "Ecke". Das Bild lebt von bildnerischen Anaphern. Viele Formen sind in vielfältiger Weise variiert. Hier fällt insbesondere auch die Anzahl "drei" auf: drei Stiele bei den Blumensträußen, drei horizontale Bänder im Früchtekorb, drei Bildfelder zwischen den "Stangen" rechts oben; drei Sockelkanten, drei Themenbereiche (Korb, Tischtuch, Umfeld) und sicherlich noch mehr.

Dazu kommt die Funktion innen - außen: nimmt man das Tischtuch mit dem Früchtekorb als ein Element, steht es im Kontrast zu dem "Drumherum".

trennt man die linke Hälfte ab hat dieses Feld einen völlig anderen Ausdruck als die rechte Hälfte, ebenso ist es mit oben und unten.

An Bildfeldern sind besonders hervorgehoben: Links oben und rechts unten. Dies ist chiastisch versetzt zu dem intensivsten Hell-dunkel Kontrast.

Überlegungen zur Bedeutungsstruktur

Zuerst wird deutlich, dass es keinen hierarchischen Aufbau zwischen motivlicher und bildnerischer Syntax zu geben scheint. Beide durchdringen sich in selbstverständlicher Weise. 

Die bildnerischen Elemente weisen darauf hin, dass Matisse das Stilleben in erster Linie gemäß der bildnerischen Qualität arrangiert und wohl auch gesehen hat. Auch die Form der Früchte, wenn wir an die ikonische Wahrnehmung denken, war für ihn von der Bildwirkung her interessant, ebenso der Raum, das Podest, das Tischtuch. Und natürlich auch die Farbigkeit, denn hier zeigt sich ganz besonders, wie stark das Bild von der Formulierung her konzipiert ist.

Ein weiteres Element erscheint wichtig: Die Dreiteilung der Bildkonzeption. Vom Motiv her gibt es drei wesentliche Teile: Schale, Tischtuch/Sockel und "Hintergrund". Die Blumensträuße auf der Tischdecke besteht, wie bereits beschrieben aus drei Blumen. Auf der Gestaltungsmittelebene taucht die Dreiteilung ebenfalls auf: Fläche/Linie/Punkt. Hier scheint ein wesentlicher Ansatzpunkt zu sein für eine weitere Untersuchung.

Darin liegt dann aber auch die Möglichkeit, über das Abstrakte weitergehende Aussagen zu machen. Wir erfahren in dieser Komposition offenbar einen Bezug zu der "Dreiheit" Mensch, Kultur, Zeitbezug. Emotionales, nur Gefühltes wird in diesem Arrangement sichtbar. Vielleicht (wahrscheinlich) war es dem Künstler selbst nicht bewusst, aber die abstrakte Einfühlung in die Zeit macht es möglich, etwas auszudrücken, was sonst noch verborgen ist.

Auf Grund der bisherigen Überlegungen erscheint eine Revision der ursprünglichen Vermutung sinnvoll: Die O''''-Aussagebene schiebt sich deutlich nach vorne, in diesem Gefolge dann auch die O'''-Ebene. Man kann Matisse nicht unterstellen, so ein ausgeklügeltes Werk "nur mal so" hingemalt zu haben. Es ist auch unerheblich, wie "bewusst" er dies Bild gemalt hat, das tut seiner Komplexität keinen Abbruch. Der Früchtekorb erscheint jetzt in symbolischer Gestalt: es ist eine in sich ruhende, schwebende Welt, vielfältig, fast bunt, geborgen im Rund des Korbes. Vielleicht steht der Korb ja für etwas wie Ruhe, wie "Heimat", wie Vielfalt auch. Zumindest etwas sehr Positives zwischen den übrigen Bildmotiven. Der lebhaft/harmonische Mensch?, der in sich Ruhende? Und der doch auch Neugierige? (das Blatt!)

Fazit: Mehr Betrachtung über den Zustand der Kultur (ein Jahr vor Ausbruch des 1. WK!), als nur "schlichter" Orangenkorb. Ist die "Tischdecke" dann der "verkehrte" Zustand des kulturellen Netzes? Ist das „Drumherum" also das Beängstígende?

Als Aussagemodus erscheint nun: O''>O''''<O'. O''' ist nach wie vor unerheblich, denn das Bild ist sicher nicht als Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zuständen konzipiert worden. Insofern ist das, was "der Künstler uns damit sagen wollte" das Eine, das Andere ist dann das, was wir im analysierenden Betrachten des Werken (für uns) erkennen können.

Auch bei den Darstellungstendenzen kommt es zur Korrektur: Es scheint doch sehr stark die indexalische Darstellungstendenz zum Tragen zu kommen. Das, was man nicht sieht, ist die Beunruhigung der gesellschaftlichen Lebensumstände in der Zeit vor dem 1. WK, davon blieb auch Matisse sicherlich nicht verschont. Die Bodenlosigkeit der Verhältnisse, das "Abgekartete" der kulturellen Verhältnisse vor dem Krieg, "alles unter die Decke, damit es nach oben schön aussieht", aber nichts passt mehr. "Alles steht auf dem Kopf", Die Virtualität der kulturellen Situation: Das Bild im Bild als Metapher für den Verlust der Realität...

Darstellungsweise: abstr-tsy-ästh-index? Das Abstrakte scheint dominant zu sein, da alle Elemente dieses Bildes einen Bezug haben zu grundlegenden Erfahrungen in einer Umbruchszeit. Damit werden tiefensymbolische Empfindungen ausgelöst, die die gesehenen Phänomene ungenau noch, aber doch deutlich fassbar darstellen. Das Ästhetische lenkt auf die augenblickliche Situation, und damit auch auf das grundsätzlich Heile im Kontext des Korbes. Das Indexalische dann doch an letzter Stelle, da es im Zusammenhang mit dem Wissen um die Arbeitsweise von Matisse als unwahrscheinlich erscheint, dass er diese Darstellungstendenz mit hoher Intentionalität verfolgt hätte. Hier drückt sich eher die Fähigkeit eines Künstlers aus, seine Zeit auf einer Ebene wahrzunehmen, wie es nur wenige können.

Nach wie vor erscheinen Individualsymbolik, Gestisches, Ikonizität und Sprachsymbolik - wenn überhaupt - dann zweitrangig. Die gefundene Betrachtungslinie ergibt keinen besonderen Bezug zur Biografie des Künstlers; auch wenn wir in der Übermalung der Tischdecke Schaffensprozesse nachvollziehen können, erscheint dies nicht als zentral. Sprachsymbolisches klingt zwar an, im Sinne jedoch einer Bezugnahme auf vorgegebene Muster erscheint das Bild neutral. (Hier kann sich selbstverständlich noch einiges ändern, wenn weitere Informationen im Zusammenhang mit Kunst- und Kulturgeschichte herangezogen werden können.) Allenfalls das Ikonische hat noch eine gewisse Wichtigkeit, ist es doch sozusagen die "Eingangspforte" für die übrigen vier Darstellungstendenzen, die das Bild prägen.

Wir haben also neben dem Tiefensymbolischen nur "Bezeichnungsebenen", die im Bild aktualisiert sind. Diese vermitteln erst einmal eine ganz "selbstverständliche" Lesart, man kann das Bild - ohne mit Bedeutungen "schwanger" gehen zu müssen - genießen, und auf sich wirken lassen. Über das Tiefensymbolische wird eine gewisse Unruhe ins Bild gebracht, eine Beunruhigung, die man auch übersehen kann, die aber dem Bild erst eine wesentliche Dimension gibt.

Das Bild hat offenbar mehrere Ebenen, die selbstverständlich im bisherigen Text alle schon angeklungen sind. Als zentrales Thema erscheint die Schönheit, die sich insbesondere über das Abstrakte und Ästhetische vermittelt. Die Schönheit der Fülle des Menschlichen. Die Schönheit der Reichhaltigkeit, des sinnlichen Überschwanges, wie er im Früchtekorb zum Ausdruck kommt. Dazu auch die Verlässlichkeit dieser eigenen Position, die Geborgenheit im Rund, die Freiheit gegenüber dem Anderen, und doch auch der unmittelbare Bezug zu den "fremden Elementen". Sei es nun die Vielfalt einer menschlichen Gemeinschaft, die den Früchtekorb ausmacht, sei es das Individuum in seinem eigenen Reichtum.

Da ist das "Blatt", welches eine grundsätzliche Beziehung der unterschiedlichen Ebenen deutlich macht, einmal hin zum "Tischtuch", ein zweites Blatt, welches "hinten" mit der "Wand" in Kontakt tritt.

Eine Versöhnlichkeit und auch eine Sicherheit geht von diesem Element "Korb" und "Früchte" aus.

Dazu: Das Bodenlose der "tragenden" Umwelt. Dahinter steckt dann das Thema "Das Individuum, die Gesellschaft und ihre Kultur und das Unfassbare", Dieses Unfassbare hat zwar eine große Ausdehnung, aber das Zentrum bleibt davon unberührt. Die Kultur trägt nicht mehr, sie ist zwar dekorativ, aber hat keinen Bezug mehr, weder zur Realität noch zu der Position der Menschlichkeit.

Das Bild hat in der Rezeption einen deutlichen Wandel erlebt durch die Analyse. Stand am Anfang noch die Freude an der Formulierung im Zentrum der Vorstellung, verschob sich dieses im Laufe der Betrachtung immer mehr. Die O''''-Aussageebene tritt immer mehr in den Mittelpunkt. Und dazu auch noch die O'-Ebene, die am Anfang keine Rolle zu spielen schien.

Im Ausformulieren dieser Aussagen kommt es natürlich schon zu einem Problem: So ein Text schafft so etwas wie einen Ansatz zur Sprachsymbolik. So ein Text kann "modellhaft" wirken, und kann dann "so" übernommen werden. Es ist eben einfacher als sich selbst Gedanken zu machen. Aber auch für sich selbst ist so ein "Ergebnis" problematisch, deckt es doch mögliche andere "Ergebnisse" zu. Es bleibt immer ein vorläufiges Ergebnis, eines, was man sich selbst zuliebe immer wieder revidieren kann, wenn es das Bild hergibt. Darin zeigen sich große Bilder: sie sind analyseresistent, man kriegt sie nicht mundtot, dadurch, dass man ihnen "aufdrückt", was sie zu heißen haben. Sie eröffnen sich immer wieder neu.

Der Gang der Analyse hat uns an einen Punkt gebracht, der sehr stark den abstrakten und den indexalischen Aspekt ins Zentrum stellt. Man könnte das Bild mit anderen Stillleben von Matisse vergleichen, ob ähnliche Elemente auftauchen - insbesondere auch diese Bedrohlichkeit der tiefensymbolischen Schicht. Verändern sich die Ausdrucksformen im Zuge des 1. WK? Insbesondere wird auch die Neugierde größer, mehr über Matisse zu erfahren, und auch die eigenen Ergebnisse mit den Ergebnissen anderer zu vergleichen.


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