Die Wirklichkeitsebene des kulturellen Netzes - O'''' | ||
Unter O'''' versteht man im Zusammenhang der Zeichenkritischen Theorie die Wirklichkeitsebene der Sprachakte und Handlungen, deren Bezugspunkt nicht die Realität (O), sondern die Sprache (O'') ist, und damit kulturelle Impulse und deren Verarbeitung. O'''' bezeichnet die Selbstreferentialität des kulturellen Netzes. Es geht um die Auswirkung von kulturellen Sprachformen und deren materialisierte Formen als O/O'' (Siehe nächste Lektion). Diese Handlungsebene reicht vom "Gehorchen" bis zum "Nachplappern", vom Warentausch bis zum Krieg, vom Streiten bis zum solidarischen Handeln, vom Zitat bis zur postmodernen Collagetechnik. Es ist die Wirklichkeitsebene der Kultur in all ihren Facetten. Sprache hat auf Grund der ihr eigenen Struktur und im Zusammenhang insbesondere des Gewährsmannprinzips eine eigene Qualität, die keine schlichte Abbildung der Realität ist. Dies haben die vorangegangenen Kapitel zu zeigen versucht. Sprache kann mit dem Begriff so tun, als entspräche dem Begriff ein eindeutiger Sachverhalt, das gleiche gilt für das bildnerische IKON, mit der Grammatik kann so getan werden, als gäbe es auch die entsprechenden Zusammenhänge ("wenn das Wörtchen 'wenn' nicht wär, dann wär mein Vater ein Millionär"), obwohl viele Satzstrukturen Wünsche und Vorstellungen repräsentieren und eben nicht die Realität (dies ist ja auch "logisch"; da die Sprache ja in erster Linie eine Ableitung von O' ist!), der Satz tut so, als gäbe es klar beschreibbare Sachverhalte in der Realität, die so immer sind und es auch bleiben werden ("Gras ist grün"...), ein Text, ein Buch tut so, als gäbe es klar umrissene Gesamtzusammenhänge mit einem Anfang und einem Schluss, mit einer Logik, einem Aufbau und einer Gliederung. Dies alles sind Repräsentationen unserer Vorstellung, aber keine Abbildungen der Realität. Da Sätze in sich aber "stimmen", scheinen sie auch darauf zu verweisen, dass Richtiges über die Realität ausgesagt wird. Man ist sich kaum jemals darüber bewusst, dass alle Sätze immer nur O' repräsentieren können, welches sicherlich selbst mehr oder weniger weit von O entfernt sein kann. Man kann sich dies in einem Schaubild deutlich machen. Das "kulturelle Netz" als Wirklichkeitsebene aufzufassen, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Der Rezipient, - besser 'die Rezipienten' - einer Äußerung, die bereits in irgendeiner Form "Allgemeingut" geworden ist (Massenmedien, Talkshow, Predigt, Buch, Bild, - also alles, was im kulturellen Bereich in irgendeiner Weise anerkannt wird), wird diese Äußerung aufnehmen, verstehen, sie wird eine Wirkung haben. Er selbst befindet sich in diesem kulturellen Kontext, und wird jetzt seine Antwort auf diesen Rahmen hin orientieren. Beim O'' dagegen hat der Wahrnehmende seine Formulierung auf O hin beziehen müssen, er hatte einen direkten Bezug zur Realität. Diese konnte ihn dann auch eines besseren belehren, wenn seine Formulierung nicht angemessen war. Beispiel: Man sagt zu einem Hund "auch Du liebes Tier", möchte ihn streicheln, und er fängt an fürchterlich zu bellen... Ganz anders beim O'''': Hier bezieht man seine Äußerung auf ein bereits bestehendes Sprach- und Kultursystem, und man wird von diesem her in seinen Äußerungen korrigiert. Dieses System findet z.B. in der Schule Anwendung: Der Schüler lernt etwas, gibt es in der Klassenarbeit wieder, und wird dafür benotet. Der Referent seines Lernens und auch der darauffolgenden Benotung ist nicht die Realität, sondern das gesellschaftliche Wissen, von dem natürlich angenommen wird, dass es mit der Realität übereinstimmt. z.B.: Aufsatz zum Thema "Tierliebe". Es wird nur von Kindern, die Umgang haben mit der Realität, also die selbst Tiere haben und die Probleme tatsächlich auch kennen, ein Aufsatz zu erwarten sein, der die Sachlage angemessen beschreibt. Alle anderen werden die kulturellen Standards ihrer Erziehung, des Unterrichts usw. reproduzieren. Dieses gilt natürlich für alle möglichen Bereiche, in denen andere Menschen ein direkt erworbenes Wissen haben (oder dies zumindest vorgeben), und der Rezipient diesem dann nur vertrauen kann. Aber in der Gesellschaft geht es beileibe nicht nur um die Relation zur Realität. Sehr viele Institutionen sind relativ "freischwebend", sie beziehen ihre Existenzberechtigung aus der Notwendigkeit gesellschaftliche Prozesse selbst strukturieren zu müssen: Die Juristerei, das Pressewesen, die Kunstkritik, die Religion, Schule und dergleichen große institutionelle Einrichtungen. Verhalten wird auf diese Institutionen hin orientiert, und es ist weitgehend tabu, den Wahrheitsgehalt dieser Institutionen anzuzweifeln. Man wird sich also daran gewöhnen, dass kulturell-institutionell verbreitete "Wahrheiten" tatsächlich die Realität repräsentieren. In der Pubertät mag man dies noch angezweifelt haben, spätestens, wenn man selbst von den Vorteilen dieser institutionalisierten Verwirrungen profitiert (die Anerkennung, die einem widerfährt als Vertreter eines dieser Berufe...), wird einem eine gewissenhafte Überprüfung der Grundlagen der eigenen Tätigkeiten kaum mehr ein wesentliches Anliegen sein. Wie anders ist es zu erklären, dass viele Journalisten, viele Politiker etc. mehr auf ihre eigene Karriere, ihren Ruhm achten, als dass sie sich dem verpflichtet wissen, was ihre eigentliche Aufgabe ist. Wenn es nun offenbar möglich ist, das kulturelle System von der Realität "abzukoppeln", dann kann dies allerdings nicht unbegrenzt geschehen. Die Widersprüche zwischen dem kulturellen System (dem "kulturellen Netz") und der Realität können so anwachsen, dass die Widersprüche den Fortbestand des kulturellen Systems gefährden. Man wird dann versuchen, das System mit all seinen Verflechtungen zu retten, man wird "reformieren", allerdings geht das auch nur soweit, als es sich tatsächlich um eine neuerliche Annäherung an die Realität handelt. Reformen können auch nur so tun, als ob sie "richtiger" wären, als das was vorher war, und letztlich kommt es dann doch zu einer "Revolution", also einer kompletten (soweit nötig) Umstrukturierung des "Überbaus" im Sinn der Realität. Man kann dies dann auch unter dem Begriff "Paradigmenwechsel" fassen, und je nach dem wie blutig oder unblutig dieser abläuft, werden dann auch die politisch-sozialen Konsequenzen sein, und auch die Sprachformen werden sich der neuen Sichtweise anpassen. Das 20. Jahrhundert hat dafür im Entstehen und im Zerfall des sozialistischen Systems beste Beispiele geliefert. Gehen wir nochmals zurück auf die Situation des O''': Wir haben dort gesagt, dass diese Wirklichkeitsebene "kurzlebig" ist, eben so lange dauert, bis man die entsprechende Information in sein eigene Gedankengebäude integriert hat und gar nicht mehr weiß, woher die Vorstellung, die man jetzt hat, her kommt. Nun kann es sein, dass man dennoch sehr genau weiß, wo die Elemente seines Wissens herkommen, auch wenn man sie voll und ganz in sein eigenes Weltverständnis integriert hat. Dies findet manchmal bei Lehrern statt, denen man für einen Wissensinhalt dankbar sein kann, ein Buch, ein Vortrag, all dies können Elemente sein, denen man sich in Dankbarkeit erinnert, weil sie einem einen wesentlichen Erkenntnissprung ermöglich haben. Man wird dies dann auch achten und wenn man gegenüber anderen diese Erkenntnis wiedergibt, wird man auch den "Lehrer" nennen, von dem man diese Er-Kenntnis hat. Wir haben also das vor uns, was man gemeinhin das Zitat nennt. Mit den Ideen und Vorstellungen anderer kann man aber auch ganz anders umgehen: man kann sie verwerten, falsch zitieren, um sich einen Vorteil zu verschaffen, man kann sie zum Beweis der eigenen Meinung heranziehen, und man kann Sätze, Aussagen aus ihrem Zusammenhang lösen, um sie vielleicht auch anzugreifen. Auch hier bezieht sich das O'''' auf das kulturelle Netz und nicht auf die Realität. Weite Bereiche der sogenannten "Postmoderne" spielen mit diesem Verfahren, nämlich dem collagierenden Zitieren von Sprachformen und Formulierungen anderer - oder auch eigener - Kulturepochen und dem verfremdendem Zugriff. Hier sehen wir die Selbstreferentialität des kulturellen Netzes in bester Weise. Aber auch das einfache "Feed-back" des Kommunikationsmodells hat hier seinen Ort: Der Sender meint ja erst einmal, dass seine Meinung "richtig" sei, er will vom Empfänger in erster Linie Affirmation. Er will eine positive Antwort auf seine Äußerung und alles andere ist erst einmal Spielverderberei. Der Empfänger der Botschaft wird ihm diese geben, sei es auf Grund des Gewährsmannprinzips, sei es auf Grund der Tatsache, dass er die Zusammenhänge nicht kennt und deswegen auf Grund von "Logik" nur entscheiden kann. Diese Logik ist eine sprachimmanente Logik, ist also von den Bedingungen des Mediums abhängig und damit auch von dessen verfälschenden Möglichkeiten. Wenn der Empfänger eine eigene Position dem Sachverhalt gegenüber hat, dann wird es selten zu einer ungetrübten Affirmation kommen. Aber auch dies ist dann natürlich ein Feed-back, allerdings eher eines im Sinne einer O''''' bzw. einer O''' '''-Aussage. Steht O'''' somit in einem O-Bezug, dann wird ein Zitat z.B. verwendet, um eine Realität zu beschreiben, es wird gestritten und geforscht, um der Realität näher zu kommen, und nicht, um sich selbst zu profilieren. Im Grunde genommen ist unsere Gesellschaft eine O''''-Gesellschaft, was sich in den letzten Jahren verändert hat ist der Wirklichkeitsmodus: In dem Maße, in dem sich O'' zum Selbstzweck gestaltet, wo O zu einer "quantité négligeable" verkümmert (im Bewusstsein der Menschen), und durch O'' (Massenmedien in erster Linie) ersetzt werden kann (durch die ökonomischen Bedingungen einer "Überflussgesellschaft"), geschieht der Umschlag im Bewusstsein. O'' wird zum vermeintlichen O und die Fähigkeit des Gehirns auf Außenimpulse zu agieren, sich in diesen zu orientieren, verlagert sich fast ausschließlich auf O'', O wird dann nur noch als "störender Faktor" erlebt. Ein weiterer Effekt ergibt sich aus dem Unterschied von O' und O''': Da O'' "leichter" zu rezipieren ist, wird er auch leichter verarbeitet mit dem Ergebnis der Nivellierung individueller Unterschiede. Da der Mensch dies (da er selbst ja "O" ist) aber braucht, werden die Unterschiede als O'' vorgefertigt; in der modernen Überflussgesellschaft gibt es deswegen statt der Individualität die Clans, die Gangs, die "Moden", die "In-groups", die "Randgruppen", die "Fangemeinden", und die Individualität beschränkt sich auf die Zugehörigkeit zu einer als andersartig auftretenden Gruppe. Dieser "Weg des geringeren Widerstandes" (O' # O''') führt zu einer Ablehnung mit der Auseinandersetzung mit O. Auch die eigene Existenz wird so vernachlässigt, "man erlebt sich selbst wie im Kino". Eine vermeintliche Fluchtmöglichkeit scheint der Kleingarten und die selbstverwaltete Bio-Land-Kommune zu geben, in einem Gesamtkontext einer Gesellschaft, die O''-O'''' zur alleinigen Realität erklärt hat, ist dies auch nicht mehr als ein Schabernack. Grundlage für all dies ist die Tatsache, dass der Mensch auf Gemeinschaft, und das menschliche Bewusstsein auf Sprache angewiesen ist, um sich zu differenzieren, Über die Möglichkeit der Machtausübung, die über Sprachsymbolik und Tiefensymbolik (siehe Lektion 8) etabliert wird, ist dann eine Orientierung an der Wirklichkeit der herrschenden Kultur möglich, statt an den Erfordernissen der Realität. Der Referent der Ebene des kulturellen Netzes ist die Ebene der Formulierung (und eben nicht die Ebene der Realität). Ist somit die sprachliche Abbildung von Wirklichkeit "falsch", d.h. führt sie nicht zu einem sinnvollen Umgang mit den Bedingungen und dem Vermögen der Realität (Beispiel: Missachtung der Ökologie), ist auch das kulturelle Netz in Bezug auf die Realität "falsch", selbst wenn es in Bezug auf die Ebene der Formulierung hin "richtig" ist. (Adorno: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen...")
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