Jeder, der ein Bild sieht, wird sich irgendwann fragen, was das Bild bedeuten soll. Die Bedeutung, man kann auch manchmal sagen der Sinn, ist ja auch die zentrale Funktion jeder Aussage, man will wissen wieso jemand einem etwas sagt. Die Frage nach der Bedeutung ist immer dann wichtig, wenn diese nicht sowieso klar ist, wenn man dahinter etwas vermutet, was wie eine verborgene Botschaft aussehen könnte. Wenn jemand sagt "mach mal das Fenster zu" wird man sich kaum nach der Bedeutung fragen, sondern, wenn man freundlich ist, das Fenster zumachen.
Aber ganz häufig - wir kennen das aus manchen Ausstellungsbesuchen - fragen wir uns überhaupt nicht nach der Bedeutung, es reicht uns, wenn das Bild uns gefällt, wenn es schön ist, wenn es uns interessiert und es uns reizvoll, spannend, bewegend erscheint. Häufig wollen wir die Bedeutung gar nicht wissen, denn dieses Wissen könnte manches entzaubern, was uns gerade wichtig ist. Das Geheimnisvolle, das, was immer wieder uns der Sache nähern lässt, ist manchmal gerade das eigentlich Faszinierende. Bei einem Bild, ebenso wie bei einem Buch, hat man auch das Bedürfnis nichts zu fixieren, da die immer neuen Entdeckungen mit dem Kunstwerk sonst fehlen würden.
Wir können also feststellen, dass Bilder zum einen auf ihre Bedeutung befragt werden können, dass dies aber nicht immer der einzige Zugang zum Bild zu sein scheint.
Zum Begriff der Bedeutung und seiner Zuordnung innerhalb der Semiotik
Wir haben schon bei der Darstellung der Semiotik und den darauf aufbauenden Grundgedanken der Zeichenkritischen Theorie auf die Tatsache verwiesen, dass die Semantik das Verhältnis zwischen Zeichen und Bedeutung untersucht.
Im Begriff der Bedeutung liegt das Wort 'deuten'. Deuten ist ein Vorgang, der etwas Unbekanntes durch Ikonisierung einem gedanklichen System so zuordnet, dass es dadurch innerhalb dieses Systems verstehbar wird. Die zeichenkritische Theorie unterscheidet zwischen 'Deutung' und 'Interpretation'. 'Deutung' ist hier ein sprachsymbolischer, 'Interpretation' ein individualsymbolischer Akt. Wenn ich sage, "ich interpretiere etwas in einer bestimmten Weise", dann soll das heißen, dass ich mir in erster Linie für mein O' ein Bild von einer Sache mache und dieses dann möglicherweise zur Diskussion stelle. Jemand der etwas 'deutet', hat dafür eine gesellschaftliche Legitimation: Er ist Traumdeuter, Zukunftsforscher, Psychotherapeut, Hellseher, Wahrsager. Die Deutung ist ein Akt auf der O''''-Ebene. (Die Frage nach den Quellen, nämlich wie ein Deuter zu seiner Deutung kommt, ob durch göttlich Eingebung, oder durch wissenschaftliche Feldforschung oder schlicht durch definitorische Machtausübung, soll hier nicht diskutiert werden, ich gehe aber davon aus, dass sprachsymbolische, indexalische und abstrakte Zusammenhänge dafür eine Rolle spielen.)
Die Bedeutung wird in der Semiotik differenziert in die 'Denotation' als konventionell (lexikalisch) festgelegte Bedeutung und die 'Konnotation' als "versteckte Bedeutung", also einer Bedeutung, die zwar eine große Rolle spielen kann (Werbung!) und dennoch nicht fest umrissen in Art einer Definition ins Bewusstsein tritt. Festgelegt werden Bedeutungen im Lexikon, solche Festlegungen dienen dazu, dass Menschen, die sich unterhalten wollen, auch den gleichen Wortschatz verwenden. Bei Bildern wird diese Funktion ersetzt durch das Ikonische und durch das Sprachsymbolische, hier wird im Rahmen der Ikonografie aber auch der Symbolforschung die Bedeutung innerhalb eines bestimmten kunstgeschichtlichen Zusammenhanges geklärt.
Die versteckte Bedeutung hat ihre Wurzeln an anderer Stelle: Die Assoziationstätigkeit des Menschen ist das Zentrum dieser Bedeutungsebene. Es gibt genügend Witze darüber, wie Menschen, bei was auch immer sie sehen, immer z.B. an Sex denken. Wenn Werbung für Matjesheringe mit einer hübschen, "offenherzigen" Dame Werbung macht, dann wird diese Bedeutungsebene bedient. Die Unmenge an Illustrierten mit "freizügigen" Damen auf der Titelseite will nur eines bewirken: die Appetenz steigern...
Appetenzverhalten, Bezeichnung in der Verhaltensforschung für eine Verhaltensweise, die in Gang gesetzt und aufrechterhalten wird, bis das Tier die Reize antrifft, welche die Endhandlung auslösen. Appetenzverhalten wird auch Suchverhalten genannt, ein Beispiel ist das Umherschweifen hungriger Tiere, bevor sie gezielt Beute jagen. Appetenzverhalten kann sehr variabel sein und verschiedene Verhaltensweisen in wechselnder Zusammensetzung aufweisen, bevor das in der Regel stereotype Endverhalten eintritt. ...
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Diese Wahrnehmungs- oder Rezeptionstendenz ist tiefensymbolischer Natur, als solche kann sie mit geeigneten Forschungsmethoden auch untersucht und angewandt werden. Zielgruppenforschung und Tiefenpsychologie sind die entsprechenden Hilfswissenschaften für diesen Bereich der Semantik.
Eine andere Form der Konnotation ist kaum erforschbar: die Individualsymbolik. Da es hier um ganz individuelle Symboliken geht, kann auch nur der Einzelne Auskünfte darüber geben, ansonsten verschließen sie sich dem allgemeinen Zugang. Die biografische Forschung kann tendenziell über dieses Gebiet der Konnotation Aufschluss liefern.
Sigmatik und Bezeichnung - "realistische Semantik"
Die Semiotik hat ein besonderes Kapitel: die sigmatische Zeichendimension. Die meisten Forscher halten die Sigmatik für einen Teil der Semantik. Materialistische Semiotiker (z.B. Georg Klaus) nehmen hier eine vierte Dimension an: die Relation Zeichen - Bezeichnung, also dem Verhältnis des Zeichens zu dem, was es bezeichnet. Dieses nennt man auch 'Referenz'. Nun ist das, was konventionell bestimmt wird, also das Benennen von Identitäten, die gesellschaftlich relevant sind, etwas anderes als die Frage nach den Bedingungen, die überhaupt dazu führen etwas als Identität "dingfest" zu machen. Die Sigmatik unterscheidet wie wir in Lektion 3 erfahren haben zwischen Symbol, Ikon und Index, um das jeweils unterschiedene Verhältnis des Zeichens zudem, was es bezeichnet zu charakterisieren. Diese Frage nach der Relation erscheint mir immer noch deutlich unterschieden von dem Problem, welches sich die Semantik stellt. Aber ich will und kann mich in diesen Forschungsstreit hier nicht weiter einmischen, wichtig ist, dass hier die Frage nach der Bezeichnung gestellt wird, also nach etwas, was lediglich die Realität postuliert und nach den unterscheidbaren Möglichkeiten fragt, diese Realität zu bezeichnen.
Im Textauszug zum Begriff 'Bedeutung' wird auf die Tatsache hingewiesen, dass es in der "Realistischen Semantik" auch um die Frage der Bezeichnung geht, in der "Pragmatischen Semantik" dagegen eher um die Frage nach den Grundlagen definitorischer Eingrenzung.
In der Zeichenkritischen Theorie unterscheide ich grundsätzlich zwischen Bedeutung und Bezeichnung. Die Konstruktion von Wirklichkeitsebenen und den darauf aufbauenden Wahrnehmungsebenen und Wahrnehmungstendenzen gibt einen interessanten Schlüssel, hier eine klare Unterscheidung zu treffen.
Aussageebenen und Bezeichnung bzw. Bedeutung
In der Zeichenkritischen Theorie unterscheide ich Zuordnungen, die auf Wirklichkeitsebenen verweisen, die in materialisierter Weise in Erscheinung treten und solche die im Denken stattfinden. O, O'', O'''' und O''' ''' sind die 'tat-sächlichen' oder konkretisierten Wirklichkeitsebenen, O', O''', und O''''' passieren im Kopf.
Mit dem Instrumentarium der Aussageebenen können wir eine erste Zuordnung vornehmen: Wenn man eine Bezeichnung von O her ableitet, wird man zumindest im Rahmen des Möglichen versuchen, ohne Interpretation und Deutung allgemein erfahrbare und überprüfbare Sachverhalte zu benennen. Das ist natürlich einfacher gesagt als getan, sind doch bei der Benennung, als einem Akt auf der O''-Aussageebene, bereits die anderen Aussageebenen auch mit dabei, auch wenn diese eine untergeordnete Rolle spielen sollen. Die Rolle der auch damit verknüpften Darstellungstendenzen soll unten weiterentwickelt werden.
Wir können wieder mit dem Mischungsverhältnis spielen: Wenn der Wahrnehmungsmodus auf O gerichtet ist, dann können wir sicher in erster Linie von einer Bezeichnung sprechen. Ist er auf O'' gerichtet, kann man z.B. Phänomene der Sprache bis hin zu gehirnphysiologischen Voraussetzungen) untersuchen und ebenfalls 'bezeichnen', ebenso bei O'''' (Kulturwissenschaft) und O''' ''' ("Revolutionswissenschaft?" ). Bei der Bezeichnung geht es in erster Linie um das identifizierende Benennen von Sachverhalten, Objekten und Prozessen. Da allerdings die anderen Wahrnehmungsebenen auch immer mit dabei sind, ist auch die Bezeichnung immer auch mit Bedeutung angefärbt.
O' ist das eigene Weltbild als System. Also "Bedeutung". Hier haben selbstverständlich die einzelnen bezeichneten Sachverhalte, Objekte und Prozesse auch schon ihren (individualsymbolischen) Ort. Dennoch ist auch hier eine Hinwendung auf Beobachtung, auf Neugier, auf Lernen eine wesentliche Antriebskraft und entzieht sich damit noch der individuellen Interpretation und damit der Zuordnung, der Ver-Ortung dieser Wahrnehmungsinhalte.
Auch O''' ist in erster Linie "Bedeutung": man will wirksam werden in einem bestimmten vorgestellten Zusammenhang. O''' als Bezeichnungsfeld findet da statt, wo Beobachtungen angestellt werden zur Wirksamkeit, trial and error, aber auch Marktforschung kann man sich hier vorstellen. Bei O''''' ist vielleicht die Verhaltensforschung, die "Meinungsbildung", damit auch die Erziehungswissenschaft das entsprechende Feld von Bezeichnungen. Als Feld der Bedeutung ist O''''' verknüpft mit Wertvorstellungen, Ethik, Moral, Erziehung.
Was hat das mit Bildern zu tun?
Es ist ziemlich einsehbar, dass im Bereich der bildenden Kunst 'Bezeichnung' im hier verwendeten Sinn vor allem auf den Ebenen O, O'' und O'''' möglich sind. das Naturkundelexikon mit Abbildungen von Fischen z.B. die die Merkmale einer Art genau bezeichnen (O-Aussage), hat noch nichts von Interpretation oder Deutung an sich, ebenso z.B. der Versuch ein adäquates Gestaltungsmittel für eine Oberflächenstruktur zu finden (O''), und dann die (häufig völlig unbewusste) Einordnung von Bildfindungen ins kulturelle Netz, sagen wir mal die letzten Fotos vom Urlaub in Marokko. Hier wird einfach eine Zugehörigkeit bezeichnet, eine unwidersprochene Einbindung in gesellschaftliche Wertvorstellungen.
Bedeutung bekommen Bilder dann, wenn es darum geht, eigene Weltvorstellungen sichtbar zu machen (individuelle Mythologien - O'), wenn Formulierungen mit bestimmten Vorstellungen verknüpft werden (Kubismus, "abstrakter Expressionismus" - O''), wenn Wirkungen gezielt erreicht werden sollen wie vielleicht im Surrealismus, oder in wesentlichen Teilen der christlichen Kunst z.B. der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald (O'''), wenn wie in der Postmoderne kulturelle Versatzstücke zu neuen Aussagen collagiert werden, (O'''') und wenn wie in der "Neuen Sachlichkeit" gesellschaftliche Zusammenhänge hinterfragt oder angeprangert werden (O''''').
Man kann für die weiteren Untersuchungen festhalten, dass Bezeichnung dann vorliegt, wenn es um eine möglichst von Wertvorstellungen befreite Anschauung geht, wenn festgehalten wird, was der allgemeinen Überprüfbarkeit standhält und wo Gedankengebäude und Ideologien eine so geringe Rolle spielen wie möglich.
Bedeutung liegt dann vor, wenn es um die Darlegung von Systemen geht, wenn Konventionen im Zentrum stehen und Wertvorstellungen vermittelt werden.
Darstellungstendenzen und Bezeichnung bzw. Bedeutung
Auch bei den Darstellungstendenzen können wir "wertungsneutrale" und "wertende" Darstellungstendenzen unterscheiden.
Das Ästhetische, das Gestische, das Indexalische und das Abstrakte sind die Tendenzen, die zumindest primär der direkten Erfahrung zugänglich sind (mit den Einschränkungen, die ich in Lektion 11 versucht habe zu skizzieren).
Das Ästhetische: Was ich mit "eigenen Augen" gesehen habe, kann ich auch benennen, und zwar so, dass ich das im Akt der Wahrnehmung Identifizierte nicht interpretieren muss, sondern erst einmal als Wahrgenommes bezeichne. Eine Wahrnehmungsintention (O/ästh) sieht z.B. einen hellen, kurz aufblitzenden Lichtschein am Himmel, und da diese Erfahrung allen beteiligten Menschen zugänglich ist, kann man sich darauf einigen (sprachsymbolisch), dieses Phänomen z.B. mit dem Wort "Blitz" zu benennen. Wie dieses Phänomen dann zu interpretieren bzw. zu deuten ist, ist damit noch gar nicht angesprochen - und wird in der Regel eine Aufgabe der Priester oder Wissenschaftler....
Beim Benennen ist die Frage der Ikonischen Symbolisierung noch zu klären. Darunter wurde in Lektion 8 dargelegt, wie die menschliche Existenzweise auf Grund der eigenen Bedürfnisstruktur cut-outs bildet, die nicht selbstverständlich auch Gegebenheiten der Realität in ihrer Gänze repräsentieren, sondern Gegebenheiten so definieren ("eingrenzen") wie sie für die menschliche Wahrnehmung und den menschlichen Handlungsspielraum sinnvoll sind. Wahrnehmen - und damit auch Benennen - sind grundsätzlich Vorgänge, die im menschlichen Gehirn stattfinden.
Da wir das Ästhetische immer im Kontext der anderen Tendenzen erleben, ist es nicht einfach, hier die reine 'Bezeichnung' zu isolieren. Wir können uns dies allenfalls modellhaft vorstellen: ein kleines Kind sieht einen Gegenstand und sagt "haben". Der Gegenstand wird zwar als Identifizierbares wahrgenommen, ist aber noch unbegrifflich. Es erscheint (plötzlich) als cut-out in der Vorstellungswelt des Kindes. Unmittelbar damit zusammen hängt der Impuls des "Begreifens", der sich im "haben" ausdrückt. Zuerst bildet sich der Begriff also in der sinnlichen Auseinandersetzung mit dem Objekt. Diese Ebene ist allen Menschen in gleicher Weise zugänglich und bedarf keiner weiteren Interpretation oder erklärender Deutung. Das 'Worte-lernen', um damit das Begriffene kommunizieren zu können, ist auch noch kein Deutungsvorgang, unser Gehirn hat schlicht und einfach die Fähigkeit, Außenimpulse mit Worten zu versehen (möglicherweise die Funktion des Wernickezentrums), ebenso, wie es die Fähigkeit hat, elektromagnetische Schwingungen als 'Farbe' wahrzunehmen.
Betrachten wir also die ästhetische Wahrnehmungstendenz unter dem Aspekt der Bezeichnung, müssen wir uns vorstellen, dass es sich dabei so gut wie ausschließlich um den sinnlichen Eindruck handeln muss. Dies gilt dann auch für die Aussageintention: Das Ästhetische meint nur die Farbigkeit, die reizvolle Kontrastverteilung, meint die Attraktivität des Bildgegenstandes selbst.
Betrachten wir die ästhetische Wahrnehmungstendenz unter dem Aspekt der Bedeutung, dann wird im Kontext mit anderen (bedeutungsträchtigen) Wahrnehmungstendenzen dieses Wahrnehmen angefärbt durch bereits Bedeutendes. Z.B. als ikonisch/individualsymbolischer Komparativ: "das ist interessanter, schöner, reizvoller als alles, was ich früher gesehen habe". oder tiefensymbolisch: "das werde ich nie wieder so sehen...", usw. Als Aussageintention z.B. bei der "optischen Täuschung" mit tiefensymbolischem Beigeschmack, sprachsymbolisch angefärbt z.B. im Reiz eines Ornaments.
Das Gestische: das Gestische ist die ganz elementare Handlungsbereitschaft, ohne damit verknüpfte 'bewusste' Absicht. Es ist die elementare Form "das Leben zu ergreifen". Jeder (gesunde) Mensch hat zu dieser Wahrnehmungstendenz ungehindert Zugang. In dieser Weise kann man auch die gestische Darstellungstendenz als eine Bezeichnung zu verstehen. Das "Urknäuel" einer frühkindlichen Zeichnung spricht ebenso dieses Elementare aus, wie ein Bild von Hans Hartung. Wird das Gestische "bedeutungsvoll", so kennen wir das eben von der Formulierung "mit bedeutungsvoller Geste", aber auch, wie beim colour-dripping in der bewussten Provokation den Gestus dem Zufall zu überlassen, oder bei einem Roy Lichtenstein, der die Spur eines Pinselzuges popig als Siebdruck abbildet und damit die Aura der direkten Gegenwärtigkeit der Werkspur bewusst ad absurdum führt. Das Bild ist geradezu eine Illustration zu Walter Benjamins Buch "Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit".
Das Indexalische: Beim Indexalischen ist die Bezeichnungsfunktion fast am klarsten abzulesen. Das Situative der Befindlichkeit im Sinne der Position ist für jeden erst einmal selbstverständlich, "man weiß, wo man ist". Und auch die Situation mit einer anderen Person zu teilen, zu wissen, dass diese Person ebenfalls zu allem Bezug hat, was einen selbst umgibt, kennen und wissen wir. Die Indexalische Darstellungstendenz bezieht sich auf dieses Gemeinsame, was nicht ausgesprochen, nicht aufgemalt werden muss, da es sich von selbst versteht. Insofern bezeichnet die indexalische Darstellungstendenz etwas, da sie eigentlich auch gar nichts "bedeuten" kann, wo sie doch auf dem Bild selbst gar nicht in Erscheinung tritt. Bedeutung erlangt das Indexalische beim "hic Rhodos, hic salta", also beim direkten Verweis auf den Ort an dem man sich befindet, und bei der Nobilierung des Ortes, beim Geburtstagstisch, beim dinner for two, auch beim Situativen Kontext der bildnerischen Variablen, wenn das Bild auf feinster Samttapete gezeigt wird, um den Wert eines Bildes zu demonstrieren.
Das Abstrakte: Das Abstrakte entzieht sich a priori der Bedeutung. Es ist die Gesamtheit der existentiellen Konstanten, die jeder Mensch ständig in den unterschiedlichsten Konkretionen erfährt und durchlebt. Hier brauchen wir eigentlich keine Interpreten und Deuter. Ein Atemzug ist ein Atemzug und Hunger ist Hunger. Beim Bild ist die abstrakte Darstellungstendenz ebenfalls in erster Linie als Bezeichnung der existentiellen Konstanten zu verstehen, aber wir haben ja auch ausgeführt, wie jede bildnerische Variable auch "Tentakel" zu den anderen Wahrnehmungstendenzen ausstreckt, und damit die jeweilige Konkretion des Abstrakten natürlich angefärbt wird durch die Bedeutung dieser modifizierenden Tendenzen.
Bedeutungsträger sind in erster Linie die symbolischen Tendenzen zusammen mit dem Ikonischen. Über die spezielle Problematik des Ikonischen haben wir hier bereits viel ausgeführt, interessanterweise ist die Bildsprache mit die einzige Sprachform, die verwechselbare Abbilder schaffen kann, zusammen mit den mechanischen und elektronischen Tonträgern. So bezeichnet das Abbild (innerhalb der bekannten Einschränkungen) in erster Linie den abgebildeten Gegenstand, erst sekundär im Kontext des Gesamtbildes erfährt das ikonische Element seine Bedeutung. Man kann sagen, die ikonische Darstellungstendenz hat eine Zwischenstellung zwischen Bezeichnung und Bedeutung, im Zusammenhang mit einer O-Aussage dominiert die Bezeichnung (Landkarte), mit den anderen Aussagebenen verbunden kommt eher der Bedeutungsaspekt zum Tragen. Dieses muss aber von Fall zu Fall entscheiden werden.
Die weiteren Darstellungstendenzen haben in erster Linie Bedeutungsfunktion. Das Tiefensymbolische verweist auf unterbewusste Systeme mit ihren eigenartigen Zuordnungen aus der Zeit der sozio-parentalen Kommentierung. Das Individualsymbolische weist auf die Bedeutungsstruktur, die ein Individuum den Dingen, Verhältnissen und Prozessen verleiht, verweist auf die Wertvorstellungen, Hoffnungen, Utopien des Einzelnen. Das Sprachsymbolische endlich verweist auf die Wertesysteme gesellschaftlicher Ordnungen.
Wenn man von Bedeutung spricht, ist meistens dieses Sprachsymbolische in erster Linie gemeint. Man fragt nach der Bedeutung, und will eigentlich wissen, was dieses in einem gesellschaftliche Kontext aussagen soll. Man will wissen, wie ein Symbol zu verstehen ist, und braucht dazu den Fachmann, der dieses kann, der es gelernt hat mit Symbolen umzugehen, sei es wissenschaftlich, metaphysisch oder esoterisch. Oder man schlägt selbst im Lexikon nach und "macht sich schlau".
Nun könne diese Darstellungstendenzen auch nach ihrer Bezeichnung hin untersucht werden: die tiefensymbolische Darstellung eines geistig Behinderten kann man darauf befragen, welche Krankheitssymptome darin zum Ausdruck kommen. Alle Maltherapien fußen auf dieser Möglichkeit, Einblick in die sonst unzugängliche Psyche zu erlangen. das Individualsymbolische gibt Anlass, die Biografie zu befragen und das Sprachsymbolische kann auch kultur- und sprachgeschichtlich untersucht werden. Auch hier muss man entscheiden welchen Aspekt, welchen Standpunkt man als Rezipient gegenüber dem Bild, der Aussage einnehmen will. Die Rezeptionsintention kann selbstverständlich das, was in der Aussageintention zum Ausdruck kommen sollte, völlig neu interpretieren und wiederum z.B. im Kontext mit "wissenschaftlichen Forschungen" deuten.
Diese Neuinterpretation von Aussageintentionen kann alle Bezeichnungsaspekte in Bedeutungsaspekte umdeuten. Es liegt im Interesse der Fachleute, sich auch als solche unentbehrlich zu machen, teilweise sind sie es zweifellos, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie sie es sich wähnen. Jeder Mensch hat Zugang zu wesentlichen Inhalten von Bildender Kunst, auch wenn er davon "gar nichts versteht". Er hat Zugang zu den Bezeichnungsaspekten, er kann mit der eigenen Individualsymbolik dem Bild seine Bedeutung verleihen, über das tiefensymbolische kann er empfinden, in welcher seelischen Verfassung sich der Künstler befindet und das Ikonische ist ihm sowieso das liebste, denn da "kennt er sich aus". Bleibt für den Fachmann im Wesentlichen das sprachsymbolische Feld, und die damit verbundenen Würdigung und Eingliederung ins kulturelle Netz.
Der Fachmann wird also versuchen, allen Aspekten, die ein Bild aufzuweisen hat, seine Interpretation zu geben, und je mehr seine Interpretation zum gesellschaftlichen Allgemeinbesitz wird, wird seine Interpretation zur Deutung, und damit kultureller Standard. Dies kann er erreichen durch Veröffentlichung seiner Interpretation in Büchern, oder als "Kunstkritik", er kann seine Interpretation als Wissenschaftler auf einem Lehrstuhl propagieren, und damit wird er langsam aber sicher sowohl den Betrachter, den normalen Rezipienten enteigenen, wie auch den Künstler selbst. Der Betrachter wird die eigene Interpretationsfähigkeit gar nicht mehr anwenden, er wird das, was der Fachmann sagt, zu seiner eigenen Meinung machen, und damit ohne dass er es merkt, diese Sehweise verbreiten helfen. Interessanterweise kann der Fachmann auch die Aspekte, die etwas bezeichnen, zu Bedeutungen erklären (das ist ja nur gut so für sein eigenes System) er kann also z.B. das Gestische mit großartigen Abhandlungen in den Bereich des Bedeutungsvollen erheben, ebenso wie das Abstrakte und das Ästhetische - Auch wenn der Künstler eigentlich etwas ganz anderes "gemeint" hat -. Auch das Indexalische wird der Fachmann sich einverleiben können, dieses allerdings zu Recht, da die Rekonstruktion von Kontexten schon eine Aufgabe der Forschung, und damit der Fachleute ist. Auch die Hintergrundsinformationen zum Biografischen, also der Quelle der Individualsymbolik des Künstlers zu rekonstruieren, ist eine Sache der Forschung. Beim Abstrakten gibt es noch den Vorteil für den Fachmann, dass, wie bereits erwähnt, das Abstrakte so dem selbstverständlichen Verstehen entzogen ist, dass es zum weiten Spielfeld für die Spezialisten wird. Reste des Zugangs zum Abstrakten stecken noch in solchen Redewendungen wie "der gesunde Menschenverstand" oder eben in dem schon geschilderten Empfinden der "Stimmigkeit". Doch dieses braucht auch Übung und vor allem auch einen kritischen Geist, und beides ist im Betrachten von Bildern beim Rezipienten nicht mehr unbedingt zu erwarten...
das Menetekel und die Deuter
Dieser Text soll eher verstanden werden als Aufmunterung sich sein eigenes Bild über Kunst zu machen, denn die Fachleute zu ärgern. Auch die stecken in einer Tradition von Wissenschaft und Lehre, sie haben selbst sich intensiv bemühen müssen um Eintrittskarten in das heere Gebäude der Wissenschaft, und fühlen sich nun zu Recht berufen, auch ihre Anschauungen preiszugeben. Liest man allerdings wirklich kritisch bestimmte Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, Feuilletons und Kunstbüchern, oder hört man sich in Führungen im Museum die Deutungen der Kunstwissenschaftler an, dann kann man schon teilweise ins Grübeln kommen.
Ganz anders allerdings als weiland Belsazar, der an der Wand die Schrift sah, die sich schreibend vollzog, und deren Deutung ihm verschlossen war, bis er einen Weisen, einen Schriftgelehrten einen Propheten in .. gefunden hatte, der ihm die Deutung dieser Schrift offenbarte. Allerdings sehr zum Nachteil von Belsazar...