Das Gewährsmannprinzip
Das Gewährsmannprinzip bezeichnet in der Zeichenkritischen Theorie die Verknüpfung von indirekter mit direkter Erfahrung. Man geht in der Zeichenkritischen Theorie davon aus, dass man im Umgang mit Menschen über deren Verhalten und deren Umgang mit einem selbst und mit den Dingen, die sie umgeben, direkte Erfahrungen macht. Dies gilt in erster Linie für die Eltern und die direkten Bezugspersonen in der frühkindlichen Phase, aber natürlich auch darüber hinaus. Diese Kontakte sind jenseits von dem, was in einer kulturell codierten Sprache kommuniziert wird (siehe "Primärsprache" - "Kultursprache") geprägt von primärsprachlichen Elementen. Dazu gehören alle emotional, seelisch motivierten Handlungen des Senders, aber auch sein Geruch, seine Stimme, sein gesamter Habitus. Es gehören dazu die Zuwendungen, die man von einem Menschen erfährt, die Freundlichkeiten, die Unterhaltsamkeit, die Zuverlässigkeit, die Konstanz in der Beziehung. Aber auch die Erfahrung im Umgang mit Rat und Tat, mit Hilfestellungen, mit dessen Wissen und der Überprüfbarkeit dieses Wissens im überschaubaren Bereich der eigenen Erfahrung.
Wenn dies alles positiv ist, dann hat man keinen Grund, etwas, das dieser Mensch von sich gibt, anzuzweifeln. Er ist Gewährsmann.
Bis hierhin wäre das ja alles noch ganz in Ordnung. Aber: bei einer indirekten Information ist das Medium selbst repräsentiert durch dessen materielle Struktur. Diese materielle Struktur meint man gar nicht wahrzunehmen, aber sie ist tatsächlich äußerst präsent und damit direkt. Das Kino ist nicht nur spannend wegen des Filmes, der gerade gezeigt wird, sondern eben auch wegen des Raumes, der Dunkelheit, der interessanten Menschen, die um einen herumsitzen. Der sonntägliche Kirchgang ist auch angenehm wegen des Weihrauchs, wegen der Musik, vielleicht wegen der kolossalen Architektur. Das Buch hat einen wunderschönen Schriftsatz, das Bild einen repräsentablen Rahmen, das Lied hat einen tollen Rhythmus, usw. Das alles heißt, dass der Inhalt einer Botschaft nicht das einzige ist, was dem Betrachter gefallen mag, es ist auch die Direktheit der sinnlichen Eindrücke, die der materielle Träger der Botschaft vermittelt. Nehmen wir das Fernsehen: es ist unterhaltsam (50 Programme!!!), man kann sich bedienen lassen (man zappt sich so durch), man kann damit angeben (70cm Diagonale und nur 4000 Euro), dazu flimmert dieser kleine Kasten (das ist ein hoher ästhetischer Reiz), er ist selbst eine Lichtquelle (ist eine kleine Sonne, er hat so ein Strahlen, es ist etwas Magisches wie bei den durchleuchteten Glasfenstern der gotischen Kathedralen), und man hat den Eindruck, dass man mit Millionen anderen etwas Wichtiges teilt, was man am Tag drauf besprechen kann, man ist in, kann mitreden, (wenn alle Freunde das Gleiche wissen, dann hat dies schon einige Relevanz), kurz, man ist rundum informiert, und die Kombination von Bild und Ton (dazu das Quäntchen notwendige untermalende Musik) ist ja auch echt dokumentarisch...
Die Information selbst rückt neben diesen ganzen direkten Qualitäten ziemlich in den Hintergrund, was dazu führt, dass man sich so ziemlich jedes Programm anschauen kann, um nicht zu sagen jeden Sch... . Was ja auch geschieht, und was dann dazu führt dass die Verpackung wesentlich wichtiger wird als der Inhalt (was auch wieder stimmt).
Das Gewährsmannprinzip heißt demnach, dass über die scheinbar peripheren Qualitäten einer Botschaft, und dadurch dass diese angenehm, unterhaltsam, treu und zuverlässig sind, diese Botschaft ohne weitere Nachfragen akzeptiert wird, denn die Person (die durch das Medium repräsentiert wird) erscheint ohne weiteres glaubwürdig. Die direkten Qualitäten des Mediums ersetzen deren indirekte Fragwürdigkeit.
Man kann sich auch eine Gewährsmann-Kette vorstellen: Von einer Person zur nächsten wird eine Geschichte erzählt, die jeweiligen Personen haben mit den jeweiligen Erzählern jeweils eine positive Beziehung und demnach wird die Information über Generationen hinweg weitergetragen und schon deswegen muss sie ja stimmen... So entsteht Kultur...