Die Eigengesetzlichkeit des bildnerischen Mediums


Alle Sprachen müssen sich über mehr oder weniger feste materielle Kanäle vermitteln, von den labilsten, z.B. in Form von Lichtreflexionen - sagen wir mal einem Augenzwinkern - bis hin zu den stabilsten, gehauen in Stein und gegossen in Metall. Nennen wir hierfür Stonehenge, die Pyramiden oder eine römische Bronzeplastik. 

Grundsätzlich kann jedes materielle System als Informationsträger dienen, allerdings nur im Umfang der eigenen materiellen Eigenschaften. Holz, Erde, Metall, Luft, Licht, der eigene Körper, Haare, Haut, Wolken, Gerüche, Laub, Blumen, Gemüse, Obst und was man sich sonst noch alles einfallen lassen kann. Um diesen Materialien eine Information mitzugeben, muss dieses Material bearbeitet werden. Durch die Bearbeitung wird das Material so verändert, dass diese Veränderung als Zeichen definiert und verstanden werden kann. Von daher ist es evident, dass diese Veränderungen nur soweit gehen können, wie es das Material "mitmacht". Es gibt auch Kanäle, die in ihrer Erscheinungsform selbst nicht verändert werden, wo lediglich ganz bestimmte Eigenschaften des "Materials" ausgenützt werden, um durch relative Veränderungen bezüglich des Betrachterstandpunktes den gewünschten Informationsgehalt zu transportieren. Das extremste Beispiel hierfür ist vielleicht der Sternenhimmel, der für die Navigation von Schiffen eine große Rolle spielt. Weiter spielt eine große Rolle die Rhythmisierung von sowieso stattfindenden Prozessen, man denke an die Lichtstrahlung, die man als solche nicht "formen" kann, die man aber durch Unterbrechungen sehr wohl zu einem Zeichensystem ausbauen kann. Lichtsignale, Leuchtfeuer, letztlich in hochkomplexer Form auch das Kino sind hierfür Beispiele. 

Die elementaren Eigenschaften des Kanals zusammen mit der Gesamtheit der möglichen und notwendigen Eingriffe, um Informationen damit transportieren zu können, werden wir später als sprachliche Variable bezeichnen und weiter untersuchen.

Die Eigengesetzlichkeit des bildnerischen Mediums findet ihre Konkretion in den bildnerischen Variablen . Unter diesen verstehen wir allgemein die Totalität der Elemente, die immer vorhanden sein müssen, um ein bildnerisches Medium zu konstituieren. Die allgemeinen bildnerischen Variablen sind dann die Merkmale, die immer bei einem Bild anwesend sein müssen, wie z.B. das Trägermaterial oder die Kontraste etc. (Die bildnerischen Variablen sind ausführliches Thema einer späteren Lektion.)

Jeder Kanal hat seine eigenen Qualitäten, auch wenn er nicht als Informationsträger genutzt wird. Diese Qualität besitzt selbst schon einen Informationsgehalt. Holz hat einen anderen Informationsgehalt "fühlt sich anders an" als z.B. Stein. Damit werden Anmutungen transportiert, die für die Information gewissermaßen die Richtung vorgeben. Etwas weiches, freundliches ausdrücken zu wollen erfordert in der Regel ein Material, was dieser Anmutung zumindest nicht widerspricht. Ein "ehernes Gesetz" erfordert mit Sicherheit ein ganz anderes Material. Die Gesetzestafeln, die Moses vom Berg mitbrachte, waren mindestens aus Hartholz, vielleicht Stein, auch Bronze - zumindest in unserer Vorstellung heute.  Dazu kommt der kulturelle Gebrauch bestimmter Materialien: Marmor gehört in ein Schloss, in eine Villa, Gold ebenfalls. Früher blieb die Farbe Rot, weil sie sehr teuer war, ausschließlich dem adeligen und klerikalen Bereich vorbehalten, allenfalls der reiche Bauer durfte sein Festtagsgewand noch damit schmücken. "Feine Seide" ist etwas anderes als Baumwolle. Allein der Gebrauch bestimmter Materialien bezeichnet soziale Unterschiede, kann einschüchtern und beeindrucken. 

Kanäle haben völlig unterschiedliche Eigenschaften als Informationsträger. Die Haltbarkeit des Materials und der darauf angebrachten Veränderungen ist ein wesentliches Kriterium, die Beeinflussbarkeit durch Umwelteinflüsse (Klima, Temperatur etc) ebenfalls. Dann sind die Modifikationsmöglichkeiten und deren Vielfalt ein wichtiges Kriterium für die Differenziertheit der damit möglichen sprachlichen Aussagen und auch die Kombinierbarkeit mit anderen Materialien zur weiteren Steigerung der Informationsdichte. Es können auch mehrfache Formungsprozesse stattfinden, die aufeinander aufbauen. Beim Bild ist das z.B. das Herstellen der Leinwand und der Keilrahmen, dann das Aufziehen der Leinwand auf den Keilrahmen, das Grundieren und dann erst kommt das eigentliche "Bild". Aber es sind nicht nur die elementaren Veränderungen an einem Material wichtig, auch die Differenziertheit der möglichen Informationsstruktur kommt als wichtiges Moment hinzu. Ob ich auf eine Fläche ein Rot auftrage oder ein Blau ist von der Veränderung her das gleiche, von der Information die möglicherweise dadurch mitgeteilt wird, ist es etwas völlig anderes. Auch dieses Phänomen ist unter dem Begriff der sprachlichen Variablen zu verstehen. 

Dann gibt es noch die Unterschiede, die mit der Bearbeitungsweise zusammenhängen. dies bezeichne ich als Unterkategorie zu den sprachlichen Variablen als "technische Variable". Ölfarbe pastos oder lasierend aufzubringen ist ein deutlicher Unterschied, noch viel mehr dann der Unterschied zwischen einer Kohlezeichnung und einem Aquarell. Auch hier wird ein Teil der Information durch die Materialeigenschaften des Gestaltungsmaterials transportiert, ebenso wie durch die Art der Bearbeitung insgesamt, also der Faktur, der Handschrift, dessen, der seine Information einem Material mitgibt. 

Die Flüchtigkeit der Bindung der Information an den Kanal ist es, welche die Sprachen in direkte und indirekte einteilt: ist der Kanal flüchtig, muss der Rezipient dem Produzenten bei dessen Sprachakt beiwohnen, ist er stabil, kann die Information konserviert werden, transportiert und damit aus dem kontextuellen raum-zeitlichen Entstehungszusammenhang herausgenommen werden. 

Bildende Kunst ist in der Regel ein indirektes Medium. Die Tatsache, dass sie raum-zeitliche Verschiebungen unbeschadet übersteht, gibt ihr seit alters her einen bestimmten, herausragenden Wert. Sie muss nicht, wie z.B. das geschriebene Wort im Theater, oder die Musik, immer wieder neu inszeniert werden. Sie ist auch nicht geschlossen wie ein Buch, sondern liegt in ihrer Erscheinungsform immer offen da. Und anders als ein Gebäude, bei dem man nur die Außenhaut wahrnehmen kann, wenn man nicht ins Innere gelangt, ist das Bild, die Skulptur, - wenn man sie denn sehen kann, falls sie nicht in Büchern oder in Gebäuden versteckt ist - frei wahrnehmbar. Diese Besonderheit von bildender Kunst entzieht tendenziell der Kunst den kontextuellen Rahmen, sie muss sich behaupten können auch an anderem Ort und zu anderer Zeit. Damit hat die bildende Kunst die Aufgabe insbesondere das Allgemeine, das Wesentliche ihrer dargestellten Themen zum Ausdruck zu bringen. Das Bild soll das Bleibende, Unveränderliche, das, was im Rahmen der Zeichenkritischen Theorie unter der "abstrakten Dimension" , bzw. der "abstrakten Darstellungstendenz" dargestellt wird, zum Ausdruck bringen. Diesen Anspruch erfahren wir eben so gut in dem die Zeiten überdauernden Aussagewert von bildender Kunst, wie in solch trivialen Fragestellungen wie "Was will der Künstler uns damit sagen..." Die besondere Stellung innerhalb des Gefüges kultureller Leistungen des Menschen hat die bildende Kunst somit durch ihre relative Kontextunabhängigkeit.

Die Eigengesetzlichkeit der bildenden Kunst drückt sich weiter darin aus, dass sie die in ihr enthaltenen Informationen gleichzeitig zur Anschauung bringt. Alles ist gleichzeitig erfassbar, die Hierarchien der Wertigkeit der Information ergeben sich aus dem Bedeutungskontext. Durch die fehlende zeitliche Komponente (im Gegensatz z.B. zu dem Gesprochenen oder Geschriebenen) genießt der Betrachter grundsätzlich eine Freiheit in der Reihenfolge der Decodierung. Allerdings nicht nur: die bildnerischen Variablen haben in ihrer bestimmten Wertigkeit was insbesondere Lage, Kontrast und Spur anbelangt auch ihnen eigene Informationsgehalte. 


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