Einleitung


Wenn wir noch einmal die Fragen der Rezeption genauer betrachten, gehen wir noch einmal zurück auf die Wirklichkeitsebenen O' und O'''. In Lektion 5 und 6 wurde dargelegt, inwieweit es notwendig ist O' von O''' zu differenzieren. 

Geben wir hier nur noch einmal ein Beispiel: Wenn man im Kino sitzt, wo gezeigt wird, wie ein Haus brennt, ist es besser sitzen zu bleiben und sich anzuschauen wie es weitergeht, in der Realität wären andere Verhaltensmuster gefragt, man müsste entweder davonlaufen, Hilfe holen oder beim Löschen helfen. 

Dieser Unterschied ist einem natürlich bewusst, man kann von einem Rezeptionsmodus in den anderen überwechseln, ohne dieses auch nur zu bemerken. 


Rezeptionsmodus


Auch als Rezipient habe ich ein bestimmtes Mischungsverhältnis in meinem Rezeptionsverhalten, das sich von dem meines Wahrnehmungsverhaltens unterscheiden kann. Ich kann als Held mich gebärden, wenn ich im Gespräch mit jemandem mich selbst "aufspielen" will, in der tatsächlichen Situation wäre ich dann vielleicht ein Feigling. Zumindest Kinder wissen noch ganz genau um diesen Unterschied, wie anders man denken kann, wenn es eben nicht "darauf ankommt". 

Man kann ein Mensch sein, der ganz besonders darauf bedacht ist, immer die Realität als oberste Instanz zu betrachten - als Wissenschaftler vielleicht, oder man lebt vorwiegend "in seiner eigenen Welt",  als Künstler z.B.  Der Regisseur, der jedes Detail einer Inszenierung ganz genau syntaktisch ordnen muss, lebt zumindest in solchen Phasen voll in der Ebene der Formulierung - der Schauspieler könnte das in der Komplexität der Situation selbst gar nicht überblicken - und der Showmaster muss immer die Reaktion des Publikums im Auge haben. 

Man kann durchaus annehmen, dass die berufliche Tätigkeit und auch die ganz individuelle Neigung einen für die eine oder andere Wahrnehmungstendenz zum Spezialisten werden lässt, der Korrekturleser in einem Verlag wird anders auf einen Text schauen als der Lektor, und er wird dieses Verhalten häufig auch im Alltag weiterleben. Daraus entwickeln sich die berufs- oder persönlichkeitsbedingten Eigenarten, das "Lehrerverhalten", der "Angeber", das "Mauerblümchen", der Herr Professor, der immer alles besser weiß, der Gentleman, der jede gesellschaftliche Situation mit Bravour meistert, usw. usw. 

Sagen wir ein Mensch schaue ganz besonders auf die Realität und wie man die sprachlich darstellen kann sagen wir er sei von Beruf Didaktiker für den Physikunterricht. Er wird auf Grund seiner Lebensumstände sich mit ganz bestimmten Freuden zusammentun, "mit denen er sich versteht", er wird Fachzeitschriften lesen, bestimmte Fernsehprogramme bevorzugen, auch seine Wohnung in einer bestimmten Weise einrichten. Sicherlich anders als eine junge Frau, die davon träumt Mannequin zu werden, und wenn das nicht klappt dann wenigsten Stewardess... 

Denken wir mal, dass diese beiden sich treffen und gemeinsam eine Ausstellung von Van Gogh anschauen. Wie können diese beiden aus ihrer jeweiligen Weltvorstellung heraus überhaupt nachvollziehen, was dieser Van Gogh hat sagen wollen? 

Wir als Menschen können uns selbstverständlich in andere "hineinversetzen", und vor allem: wir können auf den Bildern viele Dinge entdecken, die uns aus der uns ganz eigenen Perspektive besonders interessieren. Wir wissen ja, dass Bilder alle Aussageebenen beinhalten, und wir können uns auch alle aus unserer normalen Sehweise zumindest teilweise lösen. Aber nur soweit, wie es unsere Erfahrung und unser Wissen erlauben. Dem Didaktiker werden vielleicht beim Betachten der Bilder von Van Gogh die großen Sonnen auffallen, ihn wird interessieren, wie Van Gogh seine Farben gemischt und zusammengestellt hat, zu welchen Tageszeiten er seine Bilder gemalt hat, und wie er die Hitze in Arles im Sommer hat überhaupt aushalten können. Er wird von der Ausstellung beeindruckt sein. Die junge Frau wird möglicherweise die Ausstellung ganz anders erleben: sie wird die Vielfalt der Farben sehen, sie wird vielleicht die Enge und gleichzeitig die Weite mancher Bilder erleben, und den Versuch der Selbstverwirklichung, der aus diesen Bildern spricht. Auch sie wird diese Ausstellung faszinieren, beide haben eine tolle Ausstellung gesehen, aber jeder der beiden Menschen eine andere. Jeder hat etwas für sich mitgenommen. Wenn sich beide im Anschluss über diese Ausstellung unterhalten können sie die Ausstellung vielleicht noch einmal ganz ne erleben. 

Im Falle von direkten Medien ist dies noch einmal anders; hier findet ein Gespräch statt, Rede und Antwort folgen aufeinander. Wenn hier unterschiedliche Rezeptions- bzw. Wahrnehmungsmodi aufeinanderprallen, kann das schnell anders aussehen. Da geht es sofort um die Frage "wer hat Recht", und keiner ist bereit, weil er es ja (aus seiner Perspektive) ganz richtig sieht, auch nur einen Millimeter von seiner Überzeugung abzuweichen. Oder man kann an die Interviewsituationen denken, wenn der Fernsehmoderator dem Politiker vor der Wahl bestimmte Aussagen abringen will, der Politiker darauf mit einem allgemeinen Brei antwortet. Dem Politiker geht es dabei um die Wirksamkeit seines Auftritts, dem Moderator im besten Fall um die Realität, vielleicht auch um die Wirksamkeit seines Auftritts, in jedem Fall muss man beiden unterschiedliche Intentionen unterstellen. 


Rezeptionsintention


Zur Rezeptionsintention gehört dann auch noch die Rezeptionsweise. Also die Weise wie ein Mensch eine Aussage auf Grund seiner eigenen Persönlichkeit her wahrnimmt. Hört er auf den Klang der Sprache, versucht er die Lücke zu finden, wo er schnell selbst etwas sagen kann, zieht er sich in kontemplatives Grübeln zurück? Bei der Darstellung der Wahrnehmungstendenzen haben wir "Spezialisten" kennen gelernt, die die verschiedenen Wahrnehmungs- und damit auch Rezeptionstendenzen repräsentieren. Der "Ikoniker", der alles daraufhin ansieht, ob er es nicht schon kennt, der "Individualsymbolist", der bei allem was er hört und sieht seine eigenen Assoziationen pflegen möchte, der dann auch schlagfertig und unvermutet antworten kann und das Gespräch in eine ganz andere Richtung lenken kann, oder der "Sprachsymboliker", dem gleich so und so viele Zitate einfallen, usw..

Diese Gesamtmischung ergibt natürlich als Rezeptionsintention bei jedem Menschen eine ganz persönliche Note, se macht auch die Individualität der Person zu großen Teilen aus, jedenfalls in der Weise, wie sie anderen Menschen dann in Erscheinung tritt.


Warum sich die Rezeption von der Wahrnehmung unterscheidet


Der Rezipient hat im Moment der Rezeption keine Vorstellung davon, dass er möglicherweise ein grundsätzlich anderes Rezeptionsverhalten hat wie das der Wahrnehmung der Wirklichkeit gegenüber. Dies kommt daher, dass O'', welches er ja rezipiert, auch Teil der Wirklichkeit ist. Im Moment der Rezeption ist dieses O'' in Verbindung mit O'<O''' allerdings der wesentliche Anteil der für den Rezipienten gegenwärtigen Wirklichkeit. Das merkt man daran, dass man z.B. "eintauchen" kann in eine Geschichte, man kann alles um sich herum vergessen", man kann vor dem Alltag in seine Vorstellungswelt flüchten usw. Die O'' Wirklichkeitsebene ist ja gegenüber der Realität, oder der Gesamtwirklichkeit gegenüber vergleichsweise harmlos, sie kann einem erst einmal nichts anhaben, man kann das Buch beiseite legen, wenn es zu schlimm wird, die Augen zumachen im Kino, wenn es einen zu sehr gruselt. In der Wirklichkeit, und darunter verstehe ich ja immer die Gesamtwirklichkeit, kann man sich so häufig nicht entziehen, nur der Vogel Strauss versucht das. 

Wir haben in Lektion 5 und 6 auch darauf hingewiesen, dass das, was einem als Aussage von einem Menschen entgegenkommt schon verdaut und gefiltert ist durch menschliche und kulturelle Anschauung. Man kann sich in dem Ausgesagten leichter orientieren, es ist bereits in Begriffe zerlegt, gegliedert, syntaktisch aufbereitet und auf das Notwendige reduziert. Der Wirklichkeit gegenüber ist das viel schwieriger, da muss man seine eigene Position erst finden, muss selbst ordnen und begrifflich fassen, muss sich selbst ein Bild machen. Rezeptionsverhalten ist deswegen schlichtweg einfacher als Wahrnehmungsverhalten, welches der (gesamten) Wirklichkeit gegenüber gefordert ist. 

Dieses Zubereitete hat jedoch auch große Nachteile, man ist dem Angebot gegenüber handlungsunfähiger, kann weniger Eigenes dazutun, es ist so wie bei Muttern, als es hieß: "Du isst, was auf den Tisch kommt". Das ist bequem, aber auch lästig. In unserem Medienzeitalter hat der Produzent natürlich das Interesse seine Ware zu verkaufen, er will den Rezipienten möglichst davon abhalten, mit der Wirklichkeit als Ganzes in Kontakt zu kommen, er will das Monopol der Meinungsbildung selbst in der Hand behalten. Und das geht umso besser, je früher man damit anfängt. 

Wenn man schon die Kinder daran gewöhnt (die ja sowieso daran gewöhnt werden, sich versorgen zu lassen), keine eigenen Erfahrungen mehr machen zu wollen, sondern lieber die vorgefertigten Meinungen anderer zu konsumieren. Besonders Kinder, aber auch noch viele Erwachsene haben schon noch Lust daran, Eigenes zu erleben, sich "seine eigenen Gedanken" zu machen. Das ist für jeden Medienproduzenten ein Dorn im Auge. Einen Ausweg findet der Produzent dann, wenn er gut unterhalten kann, wenn er so gut kocht, wie es nur Mutter kann, und dann, wenn die Auswahl so bestechend ist, dass der Konsument oder der Rezipient schon wieder der Meinung sein kann, er wähle selbst, er handle selbst und sei eigentlich ganz autonom. Deswegen brauchen wir 67 Fernsehkanäle und endlos viele Musiksender im Radio, die alle das gleiche senden - tagein tagaus. Und wir brauchen 250 Supermärkte und noch viel mehr Boutiquen und wenn das noch nicht reicht, brauchen wir besonders noch das Internet. (Das ist aber immer noch fast ein anderer Fall...) Auf jeden Fall brauchen wir die virtuelle Welt der Computerspiele, sonst könnte es ja geradezu geschehen, dass wir vor lauter Langeweile einfach in den Himmel schauen könnten und das Spiel der Wolken beobachten... Das ist doch nicht cool, oder?

Also: Wir werden durch Unterhaltung abgerichtet als O''-Konsumenten, und je weniger wir über das Zeug nachdenken, umso besser für den Produzenten, bei dem ganzen Quark, der hier als Unterhaltung angeboten wird, ist dies auch nur gut so. Deswegen schaut man sich nach dem ersten Film im Fernsehen gleich den zweiten an, damit man möglichst einen Brei im Hirn ansammelt, der nur noch unter dem Gesichtspunkt erträglich ist, dass man sich gut unterhalten hat. Mit wem hat man sich eigentlich unterhalten?

Ergebnis dieser medialen Gehirnwäsche ist dann, dass man die Wirklichkeit nicht mehr in ihrer Gesamtheit wahrnehmen kann, da einem der Schlüssel zur Realitätserfahrung genommen wurde, auch ein O' kann man kaum noch bilden, es ist zum Verschnitt aus O''' und O'''' degradiert und eine kritische Position gegenüber der aufgezwungenen Teilwirklichkeit ist auch nicht mehr denkbar, wenn die Abkapselung von O gelungen ist. 

Ein "kritischer" Bürger ist heute keiner mehr, der sich insgesamt Gedanken macht über den Zustand der Welt und seiner eigenen Bedingungen, der kritische Bürger kauft "preisbewusst", wählt unter dem Angebot mit Bedacht aus, und hört sich verschiedene Talkshows an, damit er sich eine "Meinung bilden" kann... "Bild Dir Deine Meinung" ist der Spruch, der jetzt fällig ist.

Die Rezeptionstendenzen sind deswegen heute weitgehend ferngesteuert, um "mitreden zu können" um "in zu sein" nivelliert man sich auf unterstem Niveau. Man ist eine O'''-Identität. Die paar Eierköpfe, die da nicht mitmachen wollen, die Spielverderber, die sollen eben ihre eigenen Erfahrungen machen, sie werden schon sehen, was sie davon haben. Und das tollste: Man merkt es gar nicht mehr. Wenn man sich unterhält hat man doch den Eindruck mit ganz normalen Menschen zu tun zu haben, mit eigenen Meinungen und eigenen Schicksalen. Stimmt auch. Jeder hat seine Geschichte mit den Medien, hat seine Lieblingssupermärkte und kauft in seiner Lieblingsboutique ein. Der mögliche Einstieg in die Realität, nämlich die Arbeit, ist auch mehr als ungewiss und vor allem unangenehm. Auch das haben die Unterhaltungsspezialisten fertiggebracht. Man will reich sein ohne Arbeit, attraktiv ohne Hintergrund, und man will cool sein, ohne sich dem Leben stellen zu müssen.

Ergebnis sind die Kinobesucher beim Autounfall auf der Straße, sind die Leute, die in der Straßenbahn wegschauen (oder auch hinschauen), wenn jemand zusammengeschlagen wird, ("ist ja wie im Kino"), und die Reality-Shows im Fernsehen könnten in der Sache nicht zynischer sein. Sie sind der quasi der wissenschaftliche Nachweis des Realitätsverlustes der Konsumenten. Ist doch lustig, was?


Verständigung und Projektion


Frage: Wie kann man sich eigentlich noch verständigen? Also auf der Ebene der oben geschilderten O'''-Identität geht das problemlos. Aber gottseidank gibt es diese menschliche Mutation noch nicht wirklich. "Normal" ist ja immer noch, dass man Erfahrungen macht, man muss sie sogar vor dem Fernseher machen, auch wenn diese recht eingeschränkt sind, man muss sitzen, schauen, hat die Glotze vor sich, alles ganz wirkliche Dinge. Und es drückt einen der Hintern, wenn man zu lange auf der gleichen Stelle sitzt. Und man muss trinken, essen, schlafen und atmen, man wir krank und gesund, es wird Morgen und wieder Abend, selbst wenn wir es kaum noch merken. Wir begegnen Menschen, sprechen mit ihnen, unser Herz blubbert ganz real wenn wir uns verlieben, auch wenn wir meinen dies sei wie im Film. Man kann leicht erahnen: wir sind wieder bei den existentiellen Konstanten, ohne die menschliches Leben nicht denkbar ist, auch wenn man man Realität und abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit auf ein Minimum herunterschrauben möchte. 

Und es gibt noch weitere Wahrnehmungstendenzen, die nicht manipulierbar sind durch die Medienwelt. Sie sind zwar reduzierbar, aber sie können nicht gänzlich verleugnet werden: die ästhetische, die gestische, die indexalische und eben die abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit. Diese Wahrnehmungstendenzen sind der Garant dafür, dass wir den Boden tatsächlich nie gänzlich unter den Füssen weggezogen bekommen können, es sei denn, wir wollen es selbst. Würden wir die ästhetische Wahrnehmung von Wirklichkeit verlieren, wären wir auch nicht mehr in der Lage die medialen Produkte zu erkennen, wir wären blind, taub und gefühllos. Durch mediale Einflüsse können zwar Reizschwellen verändert werden, die Aufmerksamkeit kann extrem auf wenige Impulse gerichtet werden, dennoch brauchen wir sie die ästhetische Wahrnehmungstendenz, sonst kommt ins obere Stüberl nix rein. Ähnlich verhält es sich mit dem Gestischen: es kann zwar in bestimmter Weise gelenkt werden, die Neugier kann weitgehend auf mediale Kanäle hin konzentriert werden, kann im Pseudo-neuen eines Neckermann Urlaubs seine Konturen verlieren, aber dennoch sind immer wir es selbst, die handeln müssen. Auch ferngelenkt handeln wir selber. Und machen damit Erfahrungen, die möglicherweise einen Riss im kulturellen Netz verursachen. Solche Risse sind unsere Hoffnung, wir erleben sie in der Kindheit und Jugend ganz selbstverständlich, wenn auch schmerzhaft in der Pubertät vor allem, wenn wir allen hausgemachten regeln abschwören wollen, weil wir erkennen, dass das alles nur Willkür ist, was da zu Hause mit uns geschieht. Man sucht nach der eigenen Wirklichkeit, und ohne Bravo könnte das sicherlich auch langfristiger geschehen. Zwischen 17 und 20 entscheidet sich bei vielen Menschen zumindest in der Tendenz, ob sie Lust haben ein selbstbestimmtes Leben zu führen oder nicht. 

eine weitere Wahrnehmungstendenz, die "unverwüstbar" ist, ist die indexalische. Man ist immer in einem zeitgeschichtlichen, situativen Kontext, dieser kann zwar auch medial durchdrungen sein ("Musikteppich" im Radio) aber er ist auch sofort umkehrbar durch die Realität selbst, der Stromausfall, der den Computer zum Schweigen bringt, und der Keller, der durch den Regen voll läuft, ganz zu schweigen von den Naturkatastrophen, die von einer Sekunde zur anderen das Leben restlos verändern können. Das kulturelle Netz versucht vor den Naturereignissen zu bewahren, mit dem Erfolg, dass wir auch im Kopf den "Schutz" vor der Natur als wünschenswerte Lebensqualität auffassen, auch wenn die Natur schon über unsere eigene Körperlichkeit mit uns engstens verbunden ist. Natürlich ist auch die abstrakte Wahrnehmungstendenz unverwüstbar, wenn man krank wird, wenn man eine grundsätzliche Schädigung hat, dann kann es sein, dass auch hier Modifikationen sich ergeben, vielleicht wird der geklonte Mensch auch hier anders sein als wir es uns heute vorstellen können, aber noch sind wir nicht soweit.

Wenn man erkennt, dass jeder Mensch sein Schicksal hat, das ihm eine unverwechselbare Position im Leben gibt, wird man auch Lust bekommen, sich miteinander zu unterhalten, ohne nur unterhalten zu werden, man wird teilnehmen wollen am Prozess des Austauschs von individualsymbolischen Vorstellungen, man erlebt vom anderen Bereicherung und ist selbst bereichernd für andere. Wenn man dann noch erkennt, dass die eigene Meinung grundsätzlich nie mit der der anderen Menschen übereinstimmt (im Detail vielleicht schon), dann wird auch die Frage nach dem Recht haben zweitrangig, dann hat man viel eher Lust zu erfahren, wie denn der andere die Welt sieht. Man kann sich auch noch einmal das Schaubild vor Augen führen, welches ich für die relative Distanz zum "Kern der Realität" in Lektion 5 (kulturelles Netz) vorgestellt habe. 

Verstehen kann man sich über die Möglichkeit der "Einfühlung" in den Wahrnehmungsmodus des anderen, und über die vier Wahrnehmungstendenzen, die mit direkter Erfahrung und menschlicher Grundausstattung zusammenhängen, wie ich sie oben beschrieben habe. 

Projektionen sind dennoch die Regel der Verständigung. Gehen wir dafür noch einmal auf den Begriff des O' ein. Das eigene Weltbild ist logischerweise für den Menschen in erster Linie das, was "stimmt", denn es stimmt ja aus seiner Sicht der Dinge heraus. Man kann  sich also erst einmal gar nicht vorstellen, dass es andere "richtige" Sehweisen gibt. Die subjektiv erlebte Evidenz spricht für die eigene Vorstellung. Zentrum der O'-Wirklichkeit ist die Individualsymbolik, das Ordnungssystem der für einen wesentlichen Dinge und Verhältnisse, so "wie man selbst es sieht". Die eigene Weltvorstellung, sei sie realistisch, religiös, esoterisch, rational, wissenschaftlich, oder weiß wie sonst geprägt, erscheint immer als die richtige Anschauungsweise. Manchmal hat das fatale Folgen. Besonders wenn solche Vorstellungen zum kulturellen System erhoben werden. Man denke nur an die diversen fundamentalistischen Tendenzen, die sich derzeit in der Weltgeschichte gegenüberstehen. 

Mit individualsymbolischen Anschauung dieser Art rezipieren wir auch die Meinung anderer, auch Kunstwerke. Man wird erst einmal freundlich gesonnen sein, und versuchen, auf der Basis der eigenen Rezeptionsintention etwas Richtiges an der Aussage des anderen zu finden. Da wird man in der Regel auch fündig, denn man hat ja bei einer Aussage immer alle Aussageebenen und Darstellungstendenzen zur Auswahl. Allerdings, wenn die herauslesbare Information zu gering wird, um die eigene Meinung zu affirmieren, dann wird man schon ungehalten, und findet die Arbeit eher schlecht, langweilig oder uninteressant. Findet man genug Anhaltspunkte für die eigenen Vorlieben, dann mag man das Bild sogar, auch wenn der Künstler es mit einer gänzlich anderen Intention gemalt hat. (Mir ist es schon mehrfach vorgekommen, dass Menschen Bilder, die sie gekauft haben wieder zurückgebracht haben, weil sie erst nach einiger Zeit darauf gekommen sind, dass das, was sie sich vorgestellt haben, gar nicht auf dem Bild drauf ist.) 

Interessant wird es dann, wenn wir akzeptieren lernen, dass andere Menschen andere Meinungen und Positionen haben und dass es für den eigenen Lernprozess gut tut sich auch mit Fremdem, mit dem ganz anderen zu beschäftigen und davon zu lernen. 


Die zeichenkritische Theorie bringt mit sich, dass bestimmte Begriffe in unterschiedlichen Zusammenhängen Unterschiedliches bezeichnen. z.B. O''':

Als Wirklichkeitsebene bezeichnet O''' die Wirklichkeitsebene der Wirksamkeit, es ist die Wirklichkeitsebene, dass alle Kommunikation auf eine andere Person hin gerichtet ist.

Als Wahrnehmungsebene bezeichnet O''' die Möglichkeit, dass eine Sache so wahrgenommen wird, dass sie die eigene Weltvorstellung (also O') modifizieren kann, dass sie zum Nachdenken anregt. 

Als Aussageebene bezeichnet O''' die Aussageebene der Wirksamkeit, also die Tatsache, dass eine Aussage insbesondere darauf ausgerichtet ist, bei einer anderen Person Wirkung zu erreichen. 

Als Rezeptionsebene bezeichnet O''' die Tatsache, dass der Rezipient eine Aussage auf sich gerichtet wahrnimmt, sich selbst angesprochen meint (auch wenn er es vielleicht gar nicht ist). 

Diese Differenzierungen kann man selbstverständlich auf alle Wirklichkeitsebenen beziehen. Die Zeichenkritische Theorie ist ein Chamäleon. Je nach dem, von welcher Warte aus man auf die Elemente der Zeichenkritischen Theorie schaut, verändern sich diese und man macht sich am schnellsten mit der Denkweise der Zeichenkritischen Theorie vertraut, wenn man die Zusammenhänge in Sätze fasst.