Beispiele für die Relation zwischen existentieller Konstante und bildnerischer Variable


Vorbemerkung: Der abstrakte Zeichenaspekt wird häufig so wahrgenommen, als ginge es dabei lediglich um (bildnerisch-)formale Probleme. Eine Begründung dafür kann man vielleicht darin finden, dass die zugrundeliegenden Abstrakta, die ‘existentiellen Konstanten’, so selbstverständlich sind, dass sie "nicht der Rede wert" zu sein scheinen. Dazu kommt, dass im Laufe unserer christlich-abendländischen Kulturgeschichte das Verständnis unserer ureigensten existentiellen Fragen immer mehr zum abgehobenen Thema der Theologie, der Philosophie und sonstigen Spezialistentum wurde, so dass der ‘normale Mensch’ davon nichts mehr verstand, und es ihm nur noch als eben ‘abstrakt’ und damit als unverständlich vorkam. Nur noch mit Mühe konnte man sich mit dem nun neu erfundenen ‘abstrakten Denken’ befreunden, und das einzige, was von der ursprünglichen abstrakten Wahrnehmung von Wirklichkeit übrig bleibt, ist das innerlichste Empfinden des „Stimmigen”. Übrig geblieben ist der Bezug zu den existentiellen Konstanten noch im Märchen vielleicht, und natürlich in allen möglichen Formen der Kunst. - Jetzt aber zu den Beispielen:

Die Senkrechte:

als existentielle Konstante erleben wir den Bezug zur Schwerkraft z.B. im Stehen. Das Stehen ist jeweils konkret, mal wackelig, mal fest, mal entschlossen, mal müde. Immer erleben wir (fast immer unbewusst - da dies ja völlig "normal" ist) die Schwerkraft als Bezugspunkt unseres Stehens, und müssen dabei den Schwerpunkt unseres Körpers immer aktiv "im Lot" halten. Von außen sieht dieses Stehen ganz ruhig aus, keine Aktivität wird nach außen hin sichtbar, auch wenn der ganze Körper in Spannung sein muss um nicht in sich zusammenzufallen. Wir erleben 'Stehen' als aktive Statik

Als bildsprachliche Konstante beim (Tafel-)Bild erscheint uns als Äquivalent die Senkrechte. Normalerweise hängt ein Bild an der Wand, hat Ränder, die senkrecht erscheinen. auch die Richtung von unten nach oben auf einem Bild wird als Senkrechte erfahren (auch wenn das Bild 'waagrecht' auf dem Boden liegt). Auch die Senkrechte auf einem Bild muss immer in irgendeiner Weise formuliert sein, damit sie in Erscheinung tritt. Mal präzise als Linie, mal krakelig, mal mit festem Duktus, mal dick und fett. 

Wir erleben die Senkrechte auf dem Bild so unbewusst, wie wir die Senkrechte des Stehens erleben, eben als selbstverständlich, und bewusst dann vielleicht als schön im Ausdruck, eben wie wir auch jemanden bewundern, der schön stehen kann. Die Empfindung, dass eine Senkrechte "richtig" formuliert ist, muss irgendwo ihren Ursprung haben, das "Stimmige" muss auf eine Wahrnehmung zurückzuführen sein. Ich behaupte, dass dieses Stimmige mit der Bewusstheit existentieller Konstanten zusammenhängt und dass wir die formulierte Qualität der bildnerischen Variablen - eben hier der Senkrechten - als Ausdruck der Konkretion einer existentiellen Konstanten erleben. 

Dies ist ein äußerst komplexer Zusammenhang: Die Konkretion der Senkrechten ist ja nicht nur senkrecht, sonder hat auch eine Breite, ist aus einem bestimmte Material, hat eine bestimmbare Grenze zu dem Umfeld, hat eine bestimmte Länge und einen bestimmten Ursprung. Eine Senkrechte kann ebenso gut stehen wie fallen, kann hängen, oder lasten. All dies nehmen wir ganz selbstverständlich wahr, je nach dem Kontext in dem die Senkrechte erscheint. Jede dieser Bestimmungen, die die Senkrechte weiter qualifiziert, hat wieder ihren Bezug zu anderen Bildelementen, die alle zusammen einen Kosmos bilden, der einen bei einem guten Bild in Begeisterung versetzen kann. Dies alles zusammen ist nicht mehr analysierbar, es ist nicht mehr in eine andere Sprachform übersetzbar, man kann es nur noch mit Bewusstheit erfassen und das Echo verspüren, welches es auszulösen vermag in unserer Seele. Es ist eine ganz konkrete Ahnung von den Grundtatsachen unserer Lebendigkeit, unseres Lebens mit all den unendlich vielen Mustern, die die existentiellen Konstanten bilden können. 

Die "Farbe" Schwarz

Als weiteres Beispiel möchte ich 'Schwarz' hier kurz untersuchen: Schwarz ist die völlige Abwesenheit von Intensität, es entsteht dadurch, dass die Intensität der elektromagnetischen Wellen, die Licht und damit auch Farbigkeit erzeugen, zum verschwinden gebracht wird. Es ist die Abwesenheit von Licht. Als existentielle Konstante kennen wir das Schwarz aus der Finsternis der Nacht, auch die Ohnmacht ist schwarz. Wo Schwarz ist kann man sich nicht mehr orientieren. Schwarz saugt alle Informationen in sich auf, es gibt nichts mehr her, auch das Licht, welches auf eine schwarze Fläche scheint, wird völlig absorbiert, und wird in eine andere Energieform, nämlich Wärme umgewandelt. Es heizt sich selbst auf, ohne Licht abzustrahlen, allerdings strahlt es auch Wärme ab. Schwarz erleben wir als Leere, als Finsternis, als Tod. (Birgt die Vorstellung vom Tod neben der Kälte auch eine gewisse Wärme?)

Das Interessante bei Farben und eben auch beim Schwarz ist die Tatsache, dass eine Farbe mit einem sehr hohen Ikonizitätsgrad in Bildsprache übersetzt werden kann. Die schwarz angemalte Fläche ist  mehr oder weniger identisch mit dem Schwarz, welches eine bestimmte Oberfläche, z.B. das Fell eines Hundes haben kann. Wir haben also beim Anblick einer Farbe fast identische Wahrnehmungen wie wir dies in der Realität bei einer Farbwahrnehmung erleben. 

Es gibt völlig banale schwarze Gegenstände in der kulturellen (und natürlichen) Umgebung des Menschen. z.B. der schwarze Anzug oder das "kleine Schwarze". Schwarz bezeichnet hier die völlige Zurückhaltung (von der bürgerlichen Etikette gefordert), schwarz stellt sich in den Hintergrund ist nicht aufdringlich. Das Schwarz auf dem Bild tritt normalerweise nach hinten, lässt die Farben nach vorne treten, macht sich als Fläche kleiner als sie ist. Auch der Trauernde, der schwarz trägt, hält sich zurück, zeigt, dass er nicht auf andere zugehen kann, er ist in der Nähe des Todes. Der Kunsttheoretiker Max Raphael hat ein ganzes Buch zum Thema Schwarz geschrieben. 

Das Bildformat

Als drittes Beispiel soll das Format angesprochen werden, welches eine Eigenschaft eines jeden Bildes ist. Das Format ist die Begrenzung der Fläche, auf dem ich meine bildnerischen Gedanken ausbreiten kann. Es kann groß sein oder klein, es kann hochformatig, querformatig, quadratisch oder sonst wie geformt sein, und in der Regel wird das Format als erstes die Fläche bestimmen, auf der wie unsere Bildgedanken ausbreiten wollen. Schwierig wird es, wenn wir über das Format hinausgehen wollen, es ist eine Begrenzung, die nur dann überschritten werden kann, wenn das Format verändert wird, aber auch dann bleibt es das Format, welches wir uns dann vorgenommen haben. Es gibt den Sonderfall der Unbegrenztheit des Formats, hier entwickelt sich die Bildgestalt aus sich heraus, ohne direkten Bezug zu irgendwelchen Formatgrenzen. Die Zeichnung im Sand am Strand, das Graffiti an der Wand, sind Beispiele für die Aufhebung des Formats. Die Regel der abendländischen Bildgestalt ist aber, dass das Bild ein Format besitzt, dort - und nur dort - entwickelt sich eine Komposition, ist doch die Komposition, wenn man von der Binnenkomposition absieht, die Zuordnung der Bildelemente auf ein Format hin. 

Das Format ist das Äquivalent zur existentiellen Konstante "Handlungsfeld", "Spielraum". Zu jedem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens haben wir einen bestimmten Aktionsraum, einen begrenzten Ort, in dem, an dem wir uns bewegen können. Wenn wir beim Mittagessen sitzen können wir nicht gleichzeitig Schlittschuh fahren, im Sommer schon gar nicht, wir ordnen uns beim Essen den Gepflogenheiten des Speiseraumes unter, wir halte die Komposition der Speisenfolge ein. Wir können selbstverständlich im Gespräch - also virtuell - diesen Raum verlassen, wie wir auch beim Bildformat immaterielle Weiterungen über den Bildrand hinaus machen können, was man dann als offene Komposition bezeichnet. 

Und das Spielfeld - z.B. ein Fußballfeld - hat auch diese immanenten Regeln: Wenn die Handlungsachse (Ball) über das Spielfeld ins "Aus" geht, ist das ein Fehler, und die Spieler sind gehalten eng in Beziehung zueinander ihr Spiel aufzubauen, wie in einer guten Komposition.


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