Tilman Rothermel - Zeichenkritische Theorie

 

Die Zeichenkritische Theorie ist ein Werkzeug zur Betrachtung und Analyse von Werken der bildenden Kunst.

Gleichzeitig stellt die Zeichenkritische Theorie für den Praktiker eine Möglichkeit dar, die eigene Produktion auf ihre ablesbare Intention hin zu überprüfen. Die Zeichenkritische Theorie geht von folgenden Vorstellungen aus:

1. Es gibt unterschiedliche Wirklichkeitsebenen, die alle Gegenstand von Werken der bildenden Kunst sein können. Diese Wirklichkeitsebenen und deren Übersetzung in Sprachformen ist Gegenstand des "O-Modells". Dieses Denkmodell ist zentraler Gegenstand der Zeichenkritischen Theorie.

2. Der Künstler verfolgt bewusst oder unbewusst Ziele, die der Darstellung dieser Wirklichkeitsebenen zum Tragen verhelfen sollen.

3. Die Wirklichkeitsebenen können sich in einem Werk in ganz vielfältiger Weise miteinander mischen.

4. Die darstellbaren Wirklichkeitsebenen beziehen sich auf die materielle Realität in ihren vielfältigsten Ausprägungen und Beziehungen, dann auf die Repräsentation dieser Realität im Bewusstsein eines Menschen, weiter beziehen sich diese Wirklichkeitsebenen auf die Möglichkeit, die interne Repräsentation der äußeren Realität als Sprache darzustellen, und auf die Wirksamkeit dieser sprachlichen Produkte im Hinblick auf die Strukturierung der bewussten und unbewussten Wahrnehmung von Wirklichkeit.

5. Die den Rezipienten betreffenden Wirklichkeitsebenen sind weiter zu differenzieren in viererlei Hinsicht: Eine Intention des Produzenten dergestalt, dass er sich lediglich eine wie auch immer geartete Wirkung auf den Betrachter vorstellt; dann der Versuch, das Handeln des Rezipienten in eine ganz bestimmte Richtung zu beeinflussen, weiter dieses Handeln als reflektierbares Handeln vorzustellen, und letztlich zu einem darauf bezogenen alternativen Handeln aufzufordern. Alle diese rezipientenorientierten Intentionen können ebenso manipulativ wie emanzipatorisch eingesetzt werden.

6. Es hängt von der individuellen Eigenart des Produzenten ab, inwieweit er diese Wirklichkeitsebenen bewusst oder unbewusst einsetzt und beherrscht.

7. Jede dieser Wirklichkeitsebenen ist erneut in einem komplexen Mischungsverhältnis von Wahrnehmungs- bzw. Aussagetendenzen darstellbar: Der Produzent kann in allen Fällen den Akzent auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit der entsprechenden Phänomene legen, weiter kann er Handlungsfelder umgrenzen, er kann die unterbewussten Motivationen in Richtung auf die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen aktivieren, er kann den Bekanntheitsgrad der entsprechenden Phänomene zum Gegenstand machen, er kann eine individuelle Vorstellungswelt darauf aufbauen, er kann das kulturelle Umfeld und deren Codierungen ansprechen, er kann auf ein überprüfbares Wissen bezüglich dieser Wirklichkeitsebenen hinweisen und er kann das Allgemeine, Grundsätzliche, immer Vorhandene dieser Wirklichkeitsebenen zum Ausdruck bringen. Diese letzte Darstellungstendenz ist die abstrakte Darstellungstendenz. Sie bestimmt in grundsätzlicher Weise jedes einzelne Bild, sei es gegenständlich oder ungegenständlich.