Das Abstrakte kann man nicht dingfest machen |
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Wie
jeder Atemzug anders ist als jeder vorangegangene, so so können wir doch
das Atmen als eine existentielle Konstante erfassen, die unser Leben mit
ausmacht. Wir haben es erst einmal auch hier mit einer Abstraktion zu tun,
allerdings eine mit dem Unterschied zu den bisher beschriebenen gegenstandsbezogenen Abstraktionen und situationsbezogenen
Abstraktionen, dass die existentielle Konstante auf das Wesentliche des
eigenen Lebens hin bezogen ist. Diesen qualitativen Unterschied möchte
ich mit der Unterscheidung von Abstraktion und Abstrakt
charakterisieren. Ebenso wie die Abstraktion ereignet sich auch das
Abstakte erst einmal in unserem Bewusstsein. Inwieweit damit
"mehr" verbunden ist als nur Bewusstseinsvorgänge überlasse
ich hier gerne dem schon Jahrtausende währenden Disput der verschiedenen
Philosophieschulen. Ich selbst gehe davon aus, dass der menschliche Geist,
da er selbst ein durch die "Natur" Hervorgebrachtes ist, auch
nichts denken kann, was es nicht vom Grundsätzliche her gibt. Auch hier
gilt: das, was konkret gedacht wird, als die konkreten Philosophien, die
konkreten Religionen, die konkreten Meinungen ist immer aus der jeweiligen
Situation heraus zu bestimmen. Ich selbst verzichte also darauf, das
Abstrakte endgültig bestimmen zu wollen, da jeder Versuch dieses zu tun
schon wieder eine geschichtlich determinierte Konkretion wäre.
Andererseits ist selbstverständlich die Zeichenkritische Theorie selbst
auch wieder eine wie auch immer bestimmte Konkretion und von daher zwar
dem Abstrakten verpflichtet, aber allenfalls in der Lage, auf dieses
Phänomen einen zeitlich und räumlich begrenzten Blick zu
ermöglichen.
Die abstrakte Wahrnehmung geht aus von der Vorstellung, dass es für das Menschsein unerlässliche Bedingungen gibt, die in irgendeiner konkreten Weise vorhanden sein müssen, oder eben vorhanden sind, um menschliches Leben zu sein. Es gehören dazu äußere Elemente wie Jahreszeiten, Tag und Nacht, Kälte und Wärme, Trockenheit und Nässe, Wasser und Land, der Boden auf dem man steht und ruht, das Feld, welches Nahrung hervorbringt, das Feuer und der Sturm usw. Es gehören dazu auch körperliche Voraussetzungen: sich bewegen können, atmen, schlafen, wachen, sich verletzen, die Haut, Nahrung aufnehmen, Sinneseindrücke, Sexualität, altern, usw. Psychisch/geistige Voraussetzungen: lachen, weinen, denken, "sich fühlen", innen-außen, usw. Soziale Voraussetzungen: Eltern, Kinder, Gemeinschaft, Regeln, Austausch, Kommunikation, usw., usw. Alle diese existentiellen Konstanten machen das menschliche Leben aus, sind aber in jedem Augenblick immer wieder neu und anders. In jeder Minute konkretisieren sich diese existentiellen Konstanten in einer neuen Gestalt. Normalerweise erleben wir die existentiellen Konstanten erst dann, wenn sie als etwas Besonderes in Erscheinung treten, wenn ihre Konkretion unerwartet, vielleicht bedrohlich uns entgegentritt. Schmerzen, Unwetter, "keine Luft kriegen", aber auch sich streicheln, den Hunger stillen, sind Konkretionen, die wir wahrnehmen. Wir haben ein selbstverständliches Wissen darum, dass wir müde werden können, dass der Tag zu Ende geht, dass der Wind uns ins Gesicht bläst, dass nach dem Winter das neue Grün kommt. Dieses selbstverständliche Wissen, dieses bewusste oder unbewusste Wissen von unserem Sein in dieser Welt, bezeichne ich als die abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit. Die existentiellen Konstanten sind nicht historisch-gesellschaftlich. Da sie als unabdingbare Qualität zum Menschsein dazugehören (auch wenn z.B. ein Mensch behindert ist, definiert er sich dennoch über das "normale Menschsein"), haben alle Menschen Zugang zu diesen existentiellen Konstanten, seien es Ureinwohner von Australien, ein New Yorker Dandy, ein Steinzeitmensch oder man selbst. Über diese existentiellen Konstanten "verstehen wir uns", auch ohne Sprache, und wissen genau, dass wir anders sind als andere Lebewesen. Historisch-gesellschaftliche Unterschiede betreffen die kulturellen Konkretionen. Jede Gesellschaftsform entwickelt einen eigenen Zugang zu diesen existentiellen Konstanten und deren Verwirklichung, und dadurch sieht es so aus, als gäbe es große Unterschiede. Die Konkretion von Freude sieht in Afrika anders aus als in Schweden, die Freude "selbst" ist die gleiche. Hier sind auch die Lösungen für die "großen Fragen" der Menschheit zu sehen: die Vorstellungen über Tod, und Leben, Jenseits und Diesseits, Geist und Materie, haben in ihrer Mannigfaltigkeit in der kulturellen Konkretisierung ihren Ort. Auch im Laufe des Erwachsen-Werdens und des Alterns verändern sich die existentiellen Konstanten, Körpergröße und Kraft, Abhängigkeiten und Selbstbestimmung, auch der Zugang zu den Sinnen und dem eigenen Leistungsvermögen variiert im Laufe des Lebens. Wann diese Veränderungen eintreten, und welche gesellschaftlichen Rollen damit verbunden sind, ist wieder eine Frage der Kultur und damit verknüpften Konkretionen. Die existentiellen Konstanten sind außerordentlich vielfältig. Das geht vom 'Jucken der Haut' über das 'Betätigungsfeld', über das 'sich Nähern', über das Wissen, dass wenn ich die Augen aufmache, dass ich dann 'etwas sehen' werde bis hin eben zu den "letzten Dingen", Vergänglichkeit und Tod. Auch die Selbstverständlichkeit der anderen Wahrnehmungsebenen und -tendenzen gehört dazu: selbstverständlich habe ich Sinnesorgane, kann mich bewegen, habe 'Gefühle', 'kenne mich aus', habe meine 'eigenen Gedanken', kann kommunizieren, weiß um die Verhältnisse, in denen ich mich befinde und - last not least -, bin mir über die Selbstverständlichkeit meines Daseins bewusst. Ich erfahre 'natürlich' die Dinge um mich herum, habe meine Vorstellung von der Welt und meiner Position darin, ich habe die Fähigkeit eigene Gedanken auszudrücken und einen anderen Menschen damit zu erreichen und lebe völlig selbstverständlich in einer Gemeinschaft. (Es gibt 'natürlich' Abweichungen von diesem existentiellen Konstanten-Wissen, diese sind aber autobiografischer Art und gehören nicht zum 'allgemeinen Menschsein'.) Auch die sogenannten "abstrakten Begriffe" haben hier ihren Ort: Freiheit, Gerechtigkeit, Pflicht, oder was auch immer, sind existentielle Konstante, sie sind über Sprachsymbolik und kulturelles Netz jeweils gesellschaftlich angefärbt in unserem Begriffsfeld verankert. Z.B. 'Freiheit': Wir können uns ohne genetischen Zwang frei bewegen, müssen uns in jedem Augenblick immer wieder neu entscheiden für Handlungen, deren Konsequenzen wir nie voraussehen können, denn sonst wären wir nicht "frei". Die gesellschaftliche Anfärbung von Freiheit kann dann kantisch sein oder auch liberal, oder auch mafios. Das kommt dann ganz auf den Kontext (indexalische Wahrnehmung) an.
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