HARRY PROSS
Zeichen und Ordnung
"Die
Informationen, die die Sinne dem Menschen übermittelten, waren
irreführend, ja, selbst die Vorstellungen, die man von der individuellen
'Persönlichkeit' und der Außenwelt hatte, waren unzuverlässig
und unlogisch."
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Das
Ding als Zeichen
ERNST CASSIRER unterschied die
Wissenschaft von anderen Äußerungen 'nicht' dadurch, dass sie "der
hüllenlosen Wahrheit, der Wahrheit der 'Dinge an sich' gegenübersteht -
sondern dadurch, dass sie die Symbole, die sie gebraucht, anders und tiefer,
als jene es vermögen, als solche weiß und begreift". In steter
kritischer Arbeit muss auch in der Wissenschaft die Freiheit gegenüber den
Schöpfungen des menschlichen Geistes gewonnen werden. Solange nicht erkannt
ist, dass der 'Gebrauch' der Hypothesen und Grundlegungen der Erkenntnis
ihrer eigentümlichen 'Funktion als Grundlegung' voraus geht, "vermag
auch das Wissen seine eigenen Prinzipien nicht anders als in dinglicher,
d.h. aber in halb-mythischer Form auszudrücken und anzuschauen."
CASSIRER veröffentlichte diese
Mahnung 1922/23 in der Einleitung zu Band 2 seiner "Philosophie der
symbolischen Formen", die das mythische Denken zum Gegenstand hat. Es
war das Jahr, in dem der deutsche Rechtsextremismus seine
nationalsozialistische Fratze zeigte, und damit hängt zusammen, das CASSIRERs
letztes Buch der Fabrikation politischer Mythen gewidmet war. Es erschien
1945. Inzwischen hatte eine von den Nazis geschaffene Welt von Zeichen und
Bildern zunächst die innenpolitische Szene der Weimarer Republik besetzt,
dann die außenpolitische Situation, und damit verändert, was man gewöhnlich
die "objektive
Wirklichkeit" nennt.
Diese Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft besteht zu einem erheblichen Teil aus Dingen, die für etwas
anderes stehen und der Interpretation bedürfen, aus Zeichen also, die
gedeutet werden wollen. Sie bewirken über ihr 'materielles Dasein'
Aufsehen, Ansehen und Einsehen. Die Nationalsozialisten haben über das
Aufstellen neuer Zeichen Bedeutung
erlangt. Dabei ist wichtig, festzuhalten, dass sie schon Mitte der 20er
Jahre, als fast ein Jahrzehnt vor der legalen Etablierung des Führer-Idols
als Staatsoberhaupt, 1934, begannen, die Nichtachtung ihrer Zeichen mit
brachialer Gewalt zu ahnden, indem sie harmlose Passanten durch Prügel dazu
brachten, die Fahnen der marschierenden Kolonne zu grüßen.
So machten sie aus Erkennungszeichen
Symbole, indem sie deren Werthaftigkeit brachial bedeuteten. Die Ruinierung
der Gelehrtenrepublik, die Voraussetzung der Universitäten war, nach der
Machtübernahme, die Bücherverbrennungen durch deutsche Studenten 1933, die
Neueinkleidung der Nation in Uniformen und Ränge veränderten die objektive
Wirklichkeit in "Hitler-Deutschland" in wenigen Jahren zum Kriege
hin.
Rückblickend erscheint es mir
schwierig, an dieser Politik etwas zu finden, was von
"Aussonderung" bis "Zielvorgabe"' nicht 'Mitteilung
wertbesetzter Zeichen gewesen ist. "Wir lügen alle" überschrieb
die Publizistin MARGRET BOVERI
ihre Erinnerungen daran. Die zwölf Jahre waren die Lüge als System. Sie
erbrachten den Beweis, dass es möglich ist, ein 60-Millionen-Volk mit
falschen Zeichen in sein Verderben zu führen, indem man sie verdinglicht. MACHIAVELLI
erscheint als ein kleinstädtischer Tugendbold, gemessen an dem Ausmaß der
Manipulation geistiger Energien durch die Nazis. MORUS
wurde noch einmal hingerichtet.
Das
Zeichen als Ding
Inzwischen haben wir lernen müssen,
dass die Erfahrung mit dem deutschen Zusammenbruch von 1933 und dem
damit heraufbeschworenen Welt-Chaos uns keineswegs
BACONs Warnung vor Idolen und CASSIRERs Forderung an den Wissenschaftler
befreit hat, das Metier nicht halb-mythisch zu sehen. Im Gegenteil:
die ungeheure Vermehrung der Kommunikation durch elektronischen Medien
macht deutlich, dass die "symbolischen Formen" eben nicht,
wie CASSIRER glaubte, "dem, was wir die objektive Wirklichkeit
der Dinge nennen, gegenübertreten," sondern dass sie kraft der
'materialen Beschaffenheit der Zeichen' diese sogenannte Wirklichkeit
rapide verändern.
Jedermann "weiß" heute, oder
könnte es wissen, dass ein Redner vor vielen Mikrofonen am Pult soziale
Bedeutung hat, und einer ohne keine. Jedermann sieht, oder könnte es sehen, dass seine nackte Existenz von vielerlei Zeichen abhängt, in und außer Haus,
und dass er deren Bedeutung lernen muss, will er nicht untergehen.
Früher trieb der Mangel an Zeichen die
Menschen dazu, im Raunen des Windes, in der Flora, in den Sternen,
schließlich im Kaffeesatz nach Zeichen zu 'suchen'. Sie konnten ihnen
glauben oder nicht. Heute 'muss' daran glauben, wer auch nur das Rotlicht an
der Straßenecke ignoriert. Wir sind voll beschäftig, die Bedeutung immer
neuer Zeichen zu finden, die uns 'bedrängen'. An Zeichen ist kein Mangel.
Zeichenkonstellation
heißt Ordnung
Mit der Verbreitung der Wissenschaften
wurden ganz alltägliche Vorgänge mit
Zeichen besetzt, ohne dass CASSIRERs
Gebrauchsanweisung, sie 'als solche zu begreifen' mitgeliefert wurde.
Es gibt keine Ordnung schlechthin, sondern eine Vielfalt nebeneinander
bestehender Zeichenkonstellationen, die ihre eigenen Deutungen erfordern,
weil alle letztlich unbeweisbare und unwiderlegbare Prinzipien gründen
und willkürlich verursacht sind.
Ordnungen sind menschliche Antwort auf
die Drohung des Nichts, Versuche der Aneignung von Welt. Ordnung ist eine
Konstellation von Zeichen. Durch Zeichen erkennen wir, wie die Distanzen,
Abstände und sozialen Ränge sich zueinander verhalten, in denen wir uns
bewegen. Wo Zeichen fehlen, wähnen wir das Nichts, und wo Nichts zu sein
scheint, beeilen wir uns, ein Zeichen für Ordnung zu setzen.
Das gilt für die Sozialisation des
Kindes, wie für die der Menschheit. Die individuelle Entwicklung der
menschlichen Organismen, wie die allmähliche Formwandlung der Art
vollziehen sich im Setzen neuer Zeichen und im "Aufsteigen höherer
Ordnungen", wie das helle Zeitalter der Aufklärung uns suggeriert hat.
Tatsächlich liegt aber dieser Annahme
schon wieder ein Ordnungsprinzip zugrunde, das sprachlich höher und
niedriger argumentiert, mit auf und ab, mit vorwärts und rückwärts,
Fortschritt und Rückschritt. Die Richtung, in der sich eine Bewegung
vollzieht, wird durch zwei weiter nicht ausgewiesene Pole markiert, und die
Deutung erfolgt nach der Bewegung auf diese Pole zu und von ihnen weg.
Sprache
und Bild
Will man über Ordnung sprechen, sollte
man die Bewertungen bedenken, die in der scheinbar neutralen 'Sprache'
angelegt sind. Als am 19. Oktober 1973 zu Augsburg ein rechter Fanatiker
den Bundespräsidenten Heinemann niedergeschlagen hatte, veröffentlichte die
"Augsburger Allgemeine" ein Foto des Pressefotografen Fred
Schöllhorn. Es zeigte den Bundespräsidenten auf dem Boden, den rechten Fuß
in der Höhe, den Kopf vor dem Aufschlag bewahrend.
Die Leser der Zeitung empörten sich
gegen diese "Geschmacklosigkeit". Sie stimmten darin überein, dass die Zeitung das Bild besser nicht gebracht hätte. 'Würdelos, geschmacklos,
nutzlos, schamlos, abscheulich' nannten die Leser die Veröffentlichung. Der
Vorfall sei empörend genug, er brauche nicht auch noch im Bild festgehalten
zu werden.
Dem Protest gegen die bildliche
Darstellung des zu Boden geschlagenen Bundespräsidenten war kein
Widerspruch gegen die Meldung überhaupt zu entnehmen. Es war empörend, die
"so entsetzlich peinliche Situation bildmäßig aus(zu)schlachten",
fand eine Leserin. Das Bild, nicht die sprachliche Mitteilung erregte den
Widerspruch.
Das verweist auf die verschiedene
Bewertung von 'Sprache' und 'Bild'. Das Bild in seiner Bündigkeit spricht
Gefühle an, die der fortlaufende sprachliche Bericht nicht unmittelbar
erreicht. Sprache als Vehikel des diskursiven Denkens setzt andere
Erkenntniskräfte frei als das Bild und die Gestik. Bild und Sprache gehören
verschiedenen Symbolismen zu. Wir unterscheiden genau, wie der
Leserreaktion zeigt, was wir sehen wollen, von dem, was uns in sprachlicher
Mitteilung zu erfahren genügt: die bildliche Repräsentation und das
Darüberreden haben unterschiedliche Grade der Zumutbarkeit.
Deutung
und Ordnung
Das Kind lernt durch den Eingriff der
Erwachsenen nicht, was oben und unten, hell und dunkel, innen und außen
'ist', sondern es lernt deren 'Vorstellungen', was der vom Kind selbst
gemachten Erfahrung von oben und unten, hell und dunkel, innen und außen
zuzu'ordnen' sei.
Die Deutungen, die Gegenstände dabei
erfahren, stimmen nicht mit den herrschenden Bedeutungen überein, wie die
egozentrischen Ordnungen nicht mit den herrschenden Ordnungen
übereinstimmen. Die Sozialisation erfolgt durch allmähliche Um- und
Eindeutung, durch Abgewöhnen frühkindlicher und kindlicher Zeichengebung
und Angewöhnen an vorhandene Zeichen und deren Geltung. Dabei geht die
"kindliche Unschuld" verloren, es gilt die symbolische Gewalt der
bestehenden Ordnungen.
Diese "sehen vor", dass die
biologischen Lebensalter Funktionen entsprechend dem soziologischen
Kalender und der auf ihm gründenden Mythologien und Geschichtsauffassungen
einnehmen. Subjekte, die egozentrische Ordnungen über den jeweils
zugemessenen Bereich der Privation hinaus gelten lassen wollen, werden als
Kranke, als kindisch, als Diversanten, Chaoten stigmatisiert. Als
"Spinner", bestenfalls als "Originale" führen sie ein
absonderliches Dasein. Unangepasstes Mitteilungsbedürfnis wird mit Entzug
von Kommunikation bestraft. "Ordnung muss sein" heißt: wenn du die
Zeichen meiner Ordnung nicht respektierst, beraube ich dich der Mittel,
deine Ordnung zu zeigen.
Das Kind stößt auf Widerspruch, wenn es
die Vorstellungen der Erwachsenen nicht übernimmt und seine Ordnung nicht
den Vorstellungen der "Großen" anpasst. Dieser Lernprozess schränkt
die Beliebigkeit der kindlichen Anordnung ein, an der sich das Subjekt
bildet, indem es seine Umgebung abgrenzt und dabei eigene Vorstellungen
entwickelt, wie diese Abgrenzung zu sein habe, konkret, wo dieser Bauklotz
und jene Puppe und jenes Material zu liegen haben.
Die damit geschaffenen
Zeichenrelationen sind nur dem interpretierenden Bewusstsein des Kindes
zugänglich. Versuche, sie sich erklären zu lassen, enden gewöhnlich mit dem
mehr oder weniger erstaunten "Aha", das auch in Vernissagen zu
hören ist. Dieses "Aha ist selber kein Wort im diskursiven Sinn,
sondern Eingeständnis der Überraschung und der Unfähigkeit, diskursiv sich
zu äußern. Was in den Betonungen sich äußert, sind Gemütsverfassungen, es
ist nicht Denken, es ist Gleichgültigkeit, Bewunderung, Abwesenheit,
Aggressivität.
Die Erfahrung, dass die eigene Ordnung
den Artgenossen als Unordnung erscheint, und durch sie gefährdet ist, geht
einher mit der Erfahrung, dass Verzicht auf eigentümliche Anordnung belohnt
wird. Sie bestimmt die Kindergarten-, Vorschul- und Schulerfahrung und manifestiert sich beim Eintritt in die industrielle Produktion.
Das Subjekt wird vom Gestalter seines
"Feldes" zu einer Figur in einem "Feld".
Fremdbestimmung ersetzt Selbstbestimmung; aber auch jetzt noch braucht der
Mensch sein 'Gegenüber' als Zeichen seiner Anwesenheit. Dessen
Schutzfunktion besteht nicht in rationalen Begrenzungen, wie sie bei jedem
Grenzstreit, bei jedem Kompetenzstreit und überall behauptet wird, wo es um
Übergriffe und Übertritte geht. Die Schutzfunktion der Markierung besteht
zunächst darin, den Pfahlschläger 'seiner' Anwesenheit zu versichern.
Zeichen
schaffen Konflikt
An den Zeichen entzünden sich die
Konflikte der Ordnungen, die nebeneinander bestehen. Das ist in der
allmählichen Wandlung der menschlichen Sozietäten nicht anders als in der
Entwicklung der Subjekte. Auch sie beginnen mit der Beziehung von Raum und
Zeit als ihnen zugehörig. Auch sie einverleiben sich die Umwelt mit einem
nicht weiter beweis- oder widerlegbaren Organisationsanspruch, den man naiv
wie infantil nennen kann.
Die Techniken der Lebensführung
änderten sich gewaltig; aber Mitteilungsbedürfnisse und 'Techniken der
Selbstdarstellung' scheinen nicht sehr entwicklungsfähig. Von Totem und
Tabu zum Aufstellen der mitgebrachten Fahnenstange auf dem Mond ist der
Menschheit in dieser Hinsicht nicht viel Neues eingefallen.
Die Gattung reproduziert milliardenfach
die frühkindlichen
vorsprachlichen Erfahrungen von hell-dunkel, innen-außen, oben-unten
in der Selbstdarstellung von Subjekten und Gruppierungen. Wie das Kind
seine Zeichen um sich herum setzt, so die Familie Interieur, Haus und
Garten.
Die ideologischen Gebilde 'Religion'
und 'Staat 'werden durch Zeichensetzung zu Raumgebilden. Kirchturmspitzen
und Wegekreuze zeigen an, ob eine deutsche Landschaft katholisch oder
protestantisch "ist". Staaten "sind" nur innerhalb
ihrer Grenzpfähle, und die Anordnung von Interieurs lässt sofort die
wirksame "Ordnungsmacht" erkennen, egal welche Ordnung da Geltung
hat.
'Wirksamkeit' und 'Geltung' sind zu
unterscheiden. 'Geltung' bezeichnet die gültige Begründung, 'Wirksamkeit'
deren Umsetzung (Realisierung) in sozialem Verhalten und der Anordnung der
Dinge.
In allen Ordnungen sind Zeichen
dinglich und die Dinge Zeichen. Sie grenzen Räume zu Feldern ein. Sie
regulieren die Bewegungsarten. Sie bestimmen die Ebenen des sozialen
Verkehrs. Kein Wort wird außerhalb ihrer symbolischen Gewalt gesprochen.
Insofern ist von der Allgegenwart der Ordnungen auszugehen. Es ist fast
unmöglich, dass jemand sich bewege, ohne an eine fremde Ordnung anzustoßen,
es sei, er gehe räumlich und zeitlich nicht über die ihm zugebilligte
egozentrische Ordnung hinaus.
Historisch betrachtet, hat die seit
Renaissance und Reformation von Europa ausgehende Expansion bestehende
Ordnungen vernichtet, überlagert und durchdrungen, so dass mit erleichterten
Kommunikationen etwas wie eine "Weltinnenordnung" sich anbahnt,
deren Geltung umstritten und deren Wirksamkeit fraglich bleiben, solange
sie nicht von gemeinsamen Wertvorstellungen getragen werden. Die Aussicht
hierfür ist gering, denn die "Anarchie der Wertsysteme" (Dilthey)
liegt in der Sache selber.
Definition
Die französischen Soziologen BOURDIEU
und PASSERON
haben 1970 für die Fähigkeit, in der Erziehung durch Zeichensetzung
Bedeutungen als legitim durchzusetzen, den Begriff "symbolische
Gewalt" vorgeschlagen. Er ist geeignet, das Verhältnis von geistiger
Energie und Wirklichkeit zu erhellen, das von Idealismus und Materialismus
polarisch verstanden wurde. Die Schule, als ein abgeschlossener Raum mit
eigenen Regeln der Mitteilung, ist tatsächlich ein Beobachtungsfeld für die
Versuche, geistige Energien zu realisieren, indem man sie festgesetzten Kindern
akzeptabel macht.
Vor der Anerkennung der Legitimität von Bedeutungen ist aber ein Prozess
der Identifikation mit den Bedeutungsträgern nötig. So definieren wir
'symbolische Gewalt' als die Macht, die 'Geltung' von Bedeutungen durch
'Zeichensetzung' soweit effektiv zu machen, dass andere Leute sich damit
'identifizieren'.
Das wirft sogleich die Frage nach den
Sanktionen auf, die in der Schule eine gewisse Rolle spielen. Unterscheidet
man körperliche und andere Strafen, so erweisen sich die anderen wiederum
als symbolisch: Aussonderung durch das In-die-Ecke-stellen ist eine
symbolische Verstoßung, Strafarbeiten werden im Bereich des diskursiven
Symbolismus der Sprache absolviert; aber sie halten den Bestraften davon
ab, sich in der Zeit anderen mitzuteilen. Sie nehmen ihm etwas von seiner
Kommunikationsfähigkeit und rühren daher an die natürliche Mangelsituation,
der wir durch Kommunikation abhelfen wollen. Denselben Effekt hat aber auch
die Anwendung brachialer Gewalt, die ihrerseits 'Über'legenheit und 'Unter'werfung symbolisiert.
Die symbolische Gewalt ist an die
Materialität der Zeichen gebunden. Infolgedessen hängt alles davon ab, dass diese Zeichen dinglich genommen werden, angefangen von der abstrakten
Formel eines wissenschaftlichen Codes bis zu dem gezeichneten Grenzstrich,
der den Hoheitsanspruch einer Herrschaft von der anderen abgrenzt und sie
dadurch räumlich erst konstituiert.
Immer sind die Zeichen dinglich und
haben Dimensionen. Die Energie, die sie verkörpern, hat als solche keine.
Sie wird zur sozialen Gewalt erst in dem Verhältnis: materielles Signal,
Bedeutung und Interpret; aber niemals ohne diese Konkretisierung.
Mein zehnjähriger Sohn wollte von mir
wissen, wie schnell denn CHRISTUS
zum Himmel gefahren sei, wenn der Himmel doch unendlich und JESUS
schon am dritten Tag wieder zurück und auferstanden sei. Die Frage eines
Kindes, für das der Raumflug eine alltägliche Fernseh-Erfahrung ist; der
Versuch, die christliche Verkündigung an dieser Erfahrung zu begreifen.
Darüber hinaus aber ein Beispiel jener halbmythischen Form, die dem
tieferen Begreifen der Symbole entgegensteht.
Sprache,
Literatur, Wissenschaft
Man hat die 'Sprache' häufig mit einer Landkarte
verglichen, um darzutun, dass sie ein System von Zeichen sei und deutlich zu
unterscheiden von einer Wirklichkeit, die sie nur unvollkommen erfasst.
Dieser bildlich Vergleich hat zwei
Vorzüge. Er lässt sehen, dass die Sprache ein von den Dingen abgehobener
Symbolismus ist, und er zeigt zugleich die Möglichkeit, sprachlich Bilder
herzustellen, die ihrerseits wieder vereinfachen, was für die Beschreibung
zu kompliziert ist. Denn wenn wir sagen oder schreiben "die Sprache
gleicht einer Landkarte", machen wir anschaulich und führen einen
Sachverhalt dem Verständnis zu, indem wir vor der Kompliziertheit dieses
Sachverhaltes zurückweichen. Das setzt voraus, dass ein Vorverständnis darüber
bestehe, was als 'Landkarte' bezeichnet wird.
Die 'symbolische Gewalt der
Sprache' erneuert sich in der Begegnung der Subjekte mit ihrer Umwelt
an dieser Umwelt; und die Grundordnung ist daran beteiligt, soweit ihre
Symbole präsent sind (ein Polizist, eine Plakatwand, ein Heiligenbild, der
Staatsrundfunk) und die 'Spontaneität des Erkennens' auf sich ziehen.
Deshalb brauchen dogmatische Grundordnungen soviel Bildmaterial. Wo diese
unmittelbare Präsenz fehlt, geht das Subjekt seine eigenen Wege und setzt
das Wahrgenommene in die Struktur der Sprache um, die ihm entsprechend
seiner biologischen Zeit aus dem Sprachgebrauch der umgebenden Subjekte und
der Massenkommunikation angewöhnt worden ist.
Wobei die Selbsttätigkeit des Erkennens auch mit diesen Strukturen unterschiedliche
Vorstellungen verknüpft, die aus jeweils einzigartigen Erfahrungen stammen.
KANT setzte die Spontaneität des
Erkennens gleich Verstand; aber der Aspekt der symbolischen Gewalt lehrt
uns, dass dieser Verstand mit einem Netz von 'metaphorischen Behelfen'
arbeiten muss, deren Übertragung er nicht durchschaut und die deshalb
zum Manipel werden können.
Wer Sprache nicht als von Grund auf
metaphorisch versteht und daher interpretationsbedürftig im Sinne eines
zweifelnden "das 'soll' heißen", der wird die Grenze zwischen
bloß Vorgestelltem und dem Wahrgenommenen verwischen. Das geschieht in den
allermeisten sozialen Beziehungen, wo ein "gesagt ist gesagt"
genügt, das die Frage nach der dahinterliegenden Metaphysik erübrigt.
Insofern der alltägliche Sprachgebrauch zwischen Bild und Sache nicht
unterscheidet und die in der gewohnten Struktur angelegten Erkenntnismöglichkeiten
ihrer selbst negiert, erneuert er auch das 'mythische Bewusstsein' derjenigen,
die diese selbe Sprache sprechen. "Muttersprache" und "Vaterland"
sind Schlüsselsymbole dieses ins Biologische gedeuteten Zusammenhangs.
Die Auffassung der Literaturen als Nationalliteraturen und der Sprachwissenschaften
als Nationalwissenschaften im Europa des 19. Jahrhunderts folgen der
oft unbewussten Gewalt der Sprache, indem sie deren Ganzes artikulieren.
Die Zweifel, was etwas heißen 'soll',
zu unterdrücken, und bestimmten Worten und Sätzen apriorische Bedeutung zu
verleihen, liegt nahe, wenn die mögliche Erkenntnis der Vieldeutigkeit von
Sprache und Begriff bewusst oder unbewusst vernachlässigt wird. Wo der
'Zweifel' zum Schweigen verurteilt ist, durch Gewalt, durch Bequemlichkeit
oder einfach, weil er "sich nicht einstellt", gewinnt das
Verfahren an Boden, mit verbalen 'Symbolen' der Grundordnung (Staat, Volk,
Nation, Demokratie, Christenheit, Arbeiterklasse) so umzugehen, als seien
sie gesichertes Wissen, und von ihnen als scheinbar sicheren Prinzipien
streng methodisch Sätze abzuleiten, die 'Geltung' beanspruchen, weil sie
streng-systematisch von Begriffen und Grundsätzen a priori abgeleitet sind
(Dogmatismus).
Dogmatismus
und Pragmatismus
Das dogmatische sprachliche Verfahren
kommt der 'pragmatischen Verkürzung' der Sprache im Alltag entgegen,
umgekehrt neigt das aufs Handeln gerichtete Abkürzungsverfahren zum
'Dogmatismus'. Beiden Tendenzen nehmen das Wort für die Sache selber und
stärken damit einen Mythos, der in 'politics' ein eschatologischer zu sein
pflegt. Gleichwohl erstarrt die Sprache zu einem allein verfügbaren
Instrument der Hüter einer Grundordnung. Noch die rigorose sprachliche
Diktatur unterliegt der Diktatur der Sprache: Wir erinnerten daran, dass SS-
und Polizeichef Himmler schließlich den Gebrauch des für den Judenmord
verwendeten Terminus "Sonderbehandlung" verbot, weil er ins
Gerede gekommen war.
Das verhindert bald vierzig Jahre
später nicht, für lernbehinderte Kinder in der Bundesrepublik die
"Aussonderung" auf die "Sonderschule" vorzuschreiben.
In bezug auf die politische Grundordnung, die gewöhnlich von einem
gedruckten Verfassungstext her begründet wird, ist zu fragen, ob der unerlässliche 'Dogmatismus von Recht und Gesetz' verabsolutiert oder auf
"Gerechtigkeit als Rechtsidee" (RADBRUCH,
1932) hin relativiert wird, eingedenk der Zweifel, die den Symbolismen
Sprache und Verfahren gegenüber angebracht sind.
Eine Rechtsprechung, die nicht zu den Postulaten ihrer Verfassung
auflebt, voll bewusst, dass diese Sollenssätze sind, sondern glaubt,
in ihnen metaphysisches Wissen zu besitzen, wird unabhängig vom Inhalt
dieser Sätze die Menschen verfehlen, die ihr als Rechtssubjekte unterworfen
sind.
LITERATUR: Harry Pross, Zwänge - Essay
über symbolische Gewalt, Berlin 1981
aktualisiert
15. 2. 2003
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