Tilman Rothermel, "Zur ästhetischen Wahrnehmung von Wirklichkeit - Eine Bildinterpretation."
(Vortrag im Rahmen einer Kulturtagung unter dem Thema "Ästhetik und Wahrnehmung: Nahe oder entfernte Verwandte?" 1994)
Ursprünglich, so steht im Grimm, bezeichnete des Wort 'schön' "das, was in die Augen fällt, Glanz, Helligkeit, Klarheit."
In unserem Begriffsfeld hat das Wort "ästhetisch" einen für jedes Individuum klar umreißbaren Inhalt. Normalerweise "ist" etwas ästhetisch (oder auch nicht).
Das ästhetische hat etwas zu tun mit den Sinnen und mit einem gewissen Genuss. Und mit "schön" selbstverständlich. Auch von Schönheit haben wir alle eine Vorstellung, doch wenn es an die Klärung der Begriffe "schön"' bzw. "ästhetisch" geht, dann prallen die Privatmeinungen ebenso aufeinander wie die philosophischen Konzepte. Man ist dann schnell beim "Geschmack" und bei der absoluten Subjektivität, und man sucht sich häufig solche Freunde aus, die übereinstimmende Vorstellungen von Schönheit haben.
Wir wissen auch, dass Schönheit machbar ist, die Welt der 'Models' zeigt es uns in erfreulicher oder euch in bedrückender Weise. Trends, Gruppenschemata, die Frage nach "in" und "out" lässt ganze Geschäftsbranchen erzittern, und was in der Sammlung Ludwig hängt, ist zwar vielleicht kein Maßstab für Schönheit, aber doch einer für das, was in unserer Zeit als ästhetisch relevant zu gelten hat.
Das 'Ästhetische', 'das Schöne' steht mehr denn viele andere sprachlichen Begriffe in einem Spannungsfeld zwischen reinem individuellem Dafürhalten und gesellschaftlichen Normierungsversuchen, so kurzfristig diese auch sein mögen.
Ich möchte heute einen kleinen Einblick in die theoretischen Vorstellungen geben, mit denen ich versuche, den Begriff des 'Ästhetischen' und des 'Schönen' zu fassen und zuzuordnen. Ich werde dabei von der Zeichenkritischen Theorie ausgehen, die ich seit etlichen Jahren im Zusammenhang mit meiner künstlerischen und pädagogischen Arbeit entwickele.
Ich will hier auf Grund der "Zeichenkritischen Theorie" nachfragen, wie denn ein Bild "schön" sein kann.
Dabei gehe ich davon aus, dass jeder Mensch, und damit auch ein Bilderproduzent sich in einer Umwelt befindet, die ein Produkt ist von natürlichen Gegebenheiten und Voraussetzungen und dem, was die Gesellschaft damit gemacht hat. Diese Welt bildet sich in irgendeiner Weise im Kopf des jeweiligen Weltbetrachters und Weltbenutzers ab, und zwar in einer Weise, die bestimmt ist von den physiologischen Möglichkeiten, die wir als Menschen haben, dann von den uns individuell prägenden Einflüssen und schließlich von den uns kulturell vorgegebenen Normen und Verhältnissen.
Dies alles ergibt im Individuum ein internes Bild, das aus individuellen und aus kollektiven Elementen besteht, seien diese nun kulturell oder anthropologisch bestimmt, und im Individuum ein für dieses charakteristisches Mischungsverhältnis darstellen. Trivial kann man dieses dann die "Meinung" nennen, elaborierter wäre das dann die "Weltanschauung".
Macht dieser Mensch nun irgendwelche Aussagen über diese Welt, in der er lebt, oder greift er handelnd in diese Welt ein, dann immer über die Vorstellung von Welt, über die er verfügt. Mit seinen kommunikativen Möglichkeiten, in unserem Fall auf seinem Bild bringt er seine "Sehweise" zur Sprache. Der Bilderproduzent unterscheidet sich von dem "Normalgucker" darin, dass es einmal sein Beruf ist (und von einem Bäcker erwarten wir auch, dass er gute Brötchen backt), und dass er in besonderer Weise befähigt ist (sonst hätte er einen anderen Beruf), mit dieser Sprache Aussagen zu machen, mit denen wir etwas anfangen können. Nicht zuletzt bildet sich ja unsere eigene Wahrnehmung eben auch über die Sprache.
Diese seine Interpretation von Wirklichkeit ist es somit auch, die uns interessiert, und kulminiert in der Frage: "Was will uns der Künstler damit sagen?".
Wir erwarten aber von einem Kunstwerk auch, dass es etwas Allgemeingültiges aussagt, wir wollen ja darüber auch unser eigenes Weltbild anreichern. Und aufnahmefreudig für solch eine Botschaft sind wir sicherlich dann eher, wenn diese in angenehmer, sagen wir mal provisorisch, "schöner Form" daherkommt.
Nun ist die Empfindung des "Schönen", zumindest, wenn es sich um ein Bild handelt, auf der Seite des Rezipienten. Dieser hat natürlich auch sein Mischungsverhältnis in der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Er selbst hat ebenfalls ein inneres Bild von dem, was für ihn gut, schön, aufregend oder langweilig ist. Mit dieser seiner ureigensten inneren Anschauung schaut er nun auf das Bild.
Dabei hat er drei Möglichkeiten:
Er kann also zwischen Affirmation, Ablehnung und Irritation (Neugierde) wählen.
Wir lassen des Thema der Ablehnung beiseite, da dieser Aspekt sich mit unserm Thema erst einmal nicht verträgt. Bleiben noch zwei zu untersuchende Rezipientenverhalten: Affirmation und Irritation. Bei der Affirmation ist es ,logisch', dass die Schönheit des Bildes mit den Erwartungen des Rezipienten übereinstimmt. Das Interesse an der Affirmation kann allerdings mehrere Gründe haben:
Unter dem Gesichtspunkt der ästhetischen Diskussion eignen sich hier insbesondere die ikonische und die abstrakte Variante, also:
4. R genießt die "Formulierung" und den Anblick dessen, was er selbst nie formulieren könnte, aber so wahrnimmt und empfindet ("die Augenweide" -ikon)
8. Für R. ist es das Gegenüber eines existentiellen inneren Bezuges mit dem repräsentierten Thema, eine Art Meditationsfläche für Bewusstheit, Wachheit, Erkenntnis. (abstr.)
Die erste Variante, "R will den Genuss" hat sicher auch mit ästhetischem Empfinden zu tun, wir erwarten jedoch von "wahrem" ästhetischem Empfinden ein ernsthafteres Interesse, selbst wenn es sich hierbei noch um einen affirmativen Zugang handelt. Wir unterstellen jedenfalls des lieben Emanuel Kant ein "höheres", wenn nicht gar philosophisches "Interesses" (!) wenn er zu der Definition sich durchringt: "Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt."
Welche Verhaltensvarianten können wir uns vorstellen bei der Irritation, der Neugierde?
Auch hier ist es nicht notwendig (ohne dies jetzt genau darzulegen), unter dem Gesichtspunkt der hier untersuchten Fragestellung alle Gedankenstränge zu verfolgen. Interessant erscheinen folgende:
die ästhetische Wahrnehmung von Wirklichkeit als die Faszination der sinnlich/sensitiven Wirkung,
die ikonische, als das immer neue Wahrnehmen von Ordnungen und Inhalten,
die sprachsymbolische, als dem Versuch, die ästhetischen Kriterien von "Kunst" zu erkennen, und die abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit, als die Wahrnehmung des Bildes als des irritierend Gegenwärtige. Diese Ebenen sind offenbar besonders verdächtig, das zu transportieren, was dann als ästhetische Beurteilung bzw. Wertrelation in die gesellschaftliche Sprache Eingang findet. Und es wird deutlich, dass wir bei der affirmativen und 'irritativen' Wahrnehmung einer künstlerisch gestalteten 'schönen' Aussage diese vier Ebenen besonders untersuchen müssen.
Auch die tiefensymbolische und die individualsymbolische Ebene haben sicherlich einen ganz wesentlichen Anteil an dem, was als "schön" empfunden wird, sie sind allerdings eher dafür verantwortlich, dass subjektive Deutungen in die Bestimmung von "Schönheit" mit eingehen. Da wir "das Schöne" mehr von grundsätzlichen Bestimmungen her in den Griff bekommen wollen, können wir hier auf diese beiden Ebenen verzichten, allerdings ist klar, dass diese in weitest gehendem Maße das beeinflussen, was ein konkretes Individuum als "schön" empfindet.
Wenn wir nun nach der Schönheit fragen, denn geht es uns in erster Linie nicht um Bedeutungen, um den tieferen Sinn der Bildaussage, die wir langsam grübelnd herausarbeiten können, sondern um das spontane eigenartige Erleben, dass wir etwas schön finden, ohne uns darum Gedanken zu machen, und ohne uns um weiteres zu kümmern. (Wie Freiherr von Goethe so trefflich formulierte: "Was schöne Seelen schön empfunden, muss trefflich und vollkommen sein.")
Hier wollen wir jetzt ein Bild anschauen, damit das ganze etwas konkreter wird.
Henri Matisse, Corbeille d'oranges, 1912/13. Öl auf LW, 94x83 cm, Paris, Picasso Museum Schenkung Picasso)
Dreimal können wir bei diesem Bild nachfragen, wie dieses denn als schön erlebt wird:
Wir sehen auf dem Bild in lebhaften Farben dargestellt ein Stillleben. Auf einem roten Sockel, der von einem blumenstraußbemusterten Tuch bedeckt ist, steht eine Schale mit Früchten und Laub. Das Arrangement steht in einem Raum oder einer Raumecke, die weiter nicht definiert ist. Man könnte vermuten, dass es sich um eine Veranda handeln könnte, möglicherweise ein halb zugezogener Vorhang schließt die Szene nach links ab. Auf Grund von beleuchteten Elementen könnte man annehmen, dass von rechts eine Lichtquelle, wohl gedämpftes Tageslicht, den Raum erhellt. Das Licht ist jedoch eher diffus, da keine regelrechten Schattenwirkungen zu erkennen sind, bis auf solche Stellen, die eher - vom Motiv her gedacht - unwesentlich sind.
Wir können uns jetzt fragen, ob Matisse uns hier Auskünfte geben will über die Wirklichkeit von Früchten, von Raumsituationen oder von Licht und Atmosphäre. Oder ob Matisse uns Rechenschaft ablegen will über seine innere Befindlichkeit, die er gegenüber dem Motiv erlebt. Möglicherweise mag er besonders auf die Wirkung auf einen potentiellen Betrachter geachtet haben, doch am wahrscheinlichsten stellt dieses Bild in ganz selbstverständlicher Weise die künstlerische Sprache von Matisse dar, auch wenn die anderen Möglichkeiten sicherlich alle mitschwingen. Das Feld der Wirklichkeit scheint für Matisse Anlass, um ästhetische Bildwirkungen zu erforschen und sichtbar zu machen.
Matisse eignet sich ganz besonders für eine Untersuchung über das "Schöne", ging es ihm doch in den meisten seiner Bilder um die Pracht der sinnlichen Wahrnehmung. 'Le Bonheur de vivre' 1904; 'Luxus' I und II,1907; 'die Musik' 1910; 'Lux, calme et volupté' 1904, sind nur einige seiner Titel, die dies vielleicht belegen. Und dass es Ihm um die Bildsprache ging, dafür ein Zitat von ihm selbst:
"Die große Neuerung das Tages war die Reduktion der Form auf ihre einfachen, geometrischen Elemente, so wie Seurat sie auffasste. ...Endlich war die Malerei auf eine wissenschaftliche Formal gebracht worden, es war die Absage an den Empirismus der vorhergehenden Epochen".
Oder ein Künstler sieht in dem Gegenstand eine Projektionsfläche für eigene Vorstellungen, der Gegenstand symbolisiert dann seine eigene innere Welt; das Arrangement wird so drapiert, dass es der eigenen Befindlichkeit entspricht. Dieses Hindrapieren kann wie beim Stillleben im Arrangieren der Objekte stattfinden, oder auch erst auf der Leinwand, im Weglassen, Im Hinzufügen, in der Wahl der Perspektive und des Standpunktes. Hier drückt sich dann etwas aus, was dem ganz persönlichen Bereich von Schönheit entstammt, Schönheit als Ausdruck, als Ausdruck ganz persönlicher Einstellungen. (Auch hierfür gibt es bei Janssen sehr gute Beispiele, aber auch bei Van Gogh, z.B.)
Das Schöne in Zusammenhang mit einer O''-Aussage
Bei einem Bild, bei dem der künstlerische Versuch darin besteht, den Gegenstandsbereich auf die ästhetische Formulierbarkeit hin zu erforschen, kann man die Hypothese aufstellen, dass der Künstler das Motiv als schön erlebt, weil es seinen inneren Vorstellungen von bildsprachlichen Zusammenhängen und Ausdrucksmöglichkeiten entspricht. Und das haben wir wohl hier vor uns.
Die Wahl des Ausschnitts, der Hintergrund, die flächigen Elemente weisen darauf hin, dass Matisse das Stillleben bezüglich der bildnerischen Qualität arrangiert und gesehen hat. Er hat also ein Stück Wirklichkeit wahrgenommen, war möglicherweise ästhetisch gebannt von den Farben, die er schon wie ein Komponist im inneren Auge vor sich gesehen hat, und nur noch einen kleinen visuellen Anstoß brauchte, um das Bild tatsächlich zu malen. Auch die Form der Früchte, wenn wir an die ikonische Wahrnehmung von Wirklichkeit denken, war für ihn von der Bildwirkung her interessant, ebenso der Raum, das Podest, das Tischtuch. Und natürlich auch die Farbigkeit, denn hier zeigt sich ganz besonders, wie stark das Bild von der Sprache her konzipiert ist. Darin liegt dann auch die Möglichkeit, Emotion, Gefühl, Empfindung in dieser Sprache auszudrücken: "Es ist eine große Errungenschaft der Moderne, das Geheimnis des Ausdrucks durch Farbe entdeckt zu haben. ... Die Farben haben ihre eigene Schönheit, die es zu bewahren gilt... Es ist eine Frage dar Bildorganisation, der Komposition, die so angelegt sein muss, dass sie diese schöne Frische der Farben nicht verfälscht."
Beim Sehen dieses Motivs denkt er sicherlich in erster Linie an die Farb- und Formkontraste, an die raffinierte Komposition, die sich ihm ermöglicht, an das Spiel der Flächen, der Rhythmen, und der linearen Elemente. Dies reflektiert in erster Linie seine abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit, die Stringenz der Zuordnungen, das Genaue jeder bildnerischen Entscheidung, die sich ihm bereits beim Sehen des Motivs offenbart. Aber auch das sprachsymbolische zeigt sich ihm in einer genüsslichen Raffinesse: Das Zitat des Stilllebens auf der Tischdecke, der Rekurs auf die imaginierte Zweidimensionalität des Bildes im Bild, und dennoch immer noch dem Auge die dreidimensionale Illusion zu ermöglichen. Dieses Spiel mit der Räumlichkeit treibt er seit 1900, wo er anfing, wie hier, die Gegenstände zur Bildebene zu neigen.
Gucken wir noch einmal etwas allgemeiner:
Die Schönheit ist sicherlich ein komplexer Sachverhalt, offenbar braucht es dazu ebenso die Sinne wie den Geist und die Seele. Aber es ist eben auch ein Empfinden der Einzigartigkeit und des Einklangs, und immer gebunden an das "Jetzt". Das Eigenartige, was wir ja alle erleben, wenn wir z.B. im richtigen Moment auf den Auslöser des Fotoapparates drücken ist doch das, dass wir genau dieses Arrangement in diesem Moment für eine Entsprechung unseres inneren Bildes erleben. Goethe würde dazu 'trefflich' sagen.
Und da spielen dann eben diese oben genannten 4 Wahrnehmungsebenen die wesentliche Rolle, um uns den Eindruck des Schönen zu geben:
Gehen wir erst noch mal dar Alltagsschönheit nach.
Über die ästhetische Wahrnehmung von Wirklichkeit haben wir die Spannung, die Lust an der Aufmerksamkeit, sinnesphysiologisch dadurch begründbar, dass unsere kleinen Sinneszellen und die Nervenzellen sowieso sich dann am wohlsten fühlen, wenn sie nicht über- aber auch nicht unterbelastet sind, sondern so richtig ordentlich was zu tun haben (darauf beruht auch die Annahme von Itten von der "objektiven Farbharmonie".) Die Gestalttheorie hat dazu auch einiges beigetragen, wie es in den Gestaltgesetzen zum Ausdruck kommt. Wir sind als Menschen auf Außenimpulse angewiesen und haben - Gott sei dank - die Fähigkeit uns darüber zu freuen.
Die schöne Blume, die schöne Landschaft, der schöne Augenblick, ja, der schöne Sonnenuntergang, dann uns noch näher: der schöne Mensch, die Frau, dar Mann.
Überall gehört dieses sinnliche Prickeln dazu, das plötzliche ergriffen werden, das mit den Sinnen eintauchen wollen; kurz: das Reizvolle.
Über die ikonische Wahrnehmung von Wirklichkeit haben wir die Orientierung, die Freude darüber zu wissen, wo man ist und wie man sich verhalten kann; aber auch das Spiel mit der Orientierung, mit dem Erkennen und auch Verfremden, mit der Verwandlung von Bekanntem in Unbekanntes, wie hier die eigenartige Raumsituation.
Wir wollen auch beim Schönen, im Gegensatz zu dem "Aufregenden", oder dem "Spannenden" uns in der Situation auskennen, als den Bezug zu unserer Fähigkeit, die Wirklichkeit ordnend zu durchdringen und zu verstehen. In diesem Sinne kann Schönheit dann auch überwältigen: Man weiß, dass man sich gefahrlos einem Anblick ausliefern kann, und doch ist die sinnliche Intensität so groß, dass es einem den Atem dabei verschlagen kann.
Mit dem s-symbolischen haben wir den kulturellen Genuss, feine Anspielungen, versteckte Zitate, (auch den Rekurs auf die eigene Bildsprache) und das pointierte Umgehen mit Gattungen und Stilelementen anklingen zu lassen, - das Englische sagt dazu 'sophisticated' - oder ganz einfach die Möglichkeit der Beherrschbarkeit von Sprache zu erleben. "in sein" ist der Begriff, der diese Ebene ganz zeitgemäß beschreibt...
Wir wissen eben, was schon ist: Unsere Eltern haben uns dann erzählt, was schön, haben uns auch gesagt was "nicht schön" ist. Heute sind es die Bilder, das Fernsehen und das Kino, die es uns täglich beibringen, was schön zu sein hat. Die Idealmaße, die griechische Klassik, das Biotop, das Straßburger Münster, die Edelrose aus der holländischen Züchtung, der Mercedes 300. Und jeder, der etwas zu verkaufen hat, will an diesem Strang mitziehen, will seine Auffassung von Schönheit unter die Leute bringen, um seine Verkaufszahlen zu fördern. Das waren natürlich noch andere Zeiten bei Goethe. 10 Min Werbung auf RTL ist als ästhetisches Seminar sicherlich aufschlussreicher als dieser Vortrag.
Wir haben Orte gehabt, die uns vertraut waren, die schön waren, wo einfach ein stilles Glück vielleicht anwesend war, weil nichts die Harmonie stören konnte.
Und eben dieses eigenartige Echo der eigenen menschlichen Wesentlichkeit, die ich das Abstrakte nenne, im unendlich sich wandelnden Raum, im dynamischen Durcheinander von Wachstum, Veränderung, von quirlendem Glucksen des Lebendigen in uns und um uns herum, die Ordnung zu erkennen, wie wir selbst mit all dem verbunden sind, Teil dieses Waberns und doch in der Lage, uns in der Struktur zu bewegen.
Mit dem Abstrakten haben wir die ganze Palette der möglichen Ordnungen und Relationen, als "existentielle Chiffren" und deren Umsetzung in bildsprachliche Ausdrucksmöglichkeiten vor uns, die uns zwar von der Form her wesentlich erscheinen mögen, aber ihre eigentliche Bedeutung (als Bezeichnung!) in ihrer Relevanz für existentielle Ursituationen haben. (Oh weh, wie ist das Selbstverständliche so wenig ausdrückbar...!)
In der Summe dieser vier Ebenen sehe ich die Möglichkeit "Schönheit" zu erleben, als den "Klick", der in uns eine Gänsehaut hervorrufen kann, weil alles so genau stimmt, so wunderbar ineinander greift, und nichts "stört". Eben der Moment, in welchem (wir auf den Auslöser drücken möchten) Matisse zum Pinsel greift...
Indes: die normale Umgebung des 'normalen' Menschen ist ja vielleicht ganz nett, aber selten "schön". Schön ist sie natürlich im individualsymbolischen Sinn, da wollen wir nicht dran rütteln. Aber es geht ja um ein allgemein "Schönes". Und dieses Schöne erlebt man eben nicht alle Tage. Da muss man reisen, muss warten, muss in die Oper gehen, bis es dann vielleicht einen überkommt. Irgendwie verdichten sich die ganzen Unmassen von Sinnesreizen zu einem plötzlichen Einklang mit der inneren Wahrnehmung und Stimmung. Plötzlich ist da ein Zusammenklang von äußeren Impulsen und innerer Bereitschaft, deren Echo wir als Ordnung, als Gleichklang, als Schönheit erleben können.
Die innere Vorstellung von Stimmigkeit, von Richtigkeit lässt sich auch in einem Bild wiederfinden. Es besteht, sagen wir mal, eine Ähnlichkeitsrelation zwischen dem inneren Bild von Schönheit und dem, was der Künstler als Ordnung, als Klang auf seinem Bild gestaltet hat. Diese Ähnlichkeitsrelation zwischen Bild und innerem Abbild stellt so etwas wie eine Brücke her, zwischen dem Draußen, den Unmengen von Impulsen, die auf einen einströmen, und dem Drinnen, dem Ort, in dem dies alles irgendwie geordnet werden muss, um seinen Sinn zu erhalten.
Es ist ja schon ein herausgehobenes Ereignis, wenn ein Künstler etwas schön findet. Dann muss es ja etwas besonderes sein. Vielleicht malt er es ja auch gar nicht, weil er die Situation schön findet. Vielleicht hat er nur die Schönheit des eigenen Bildes im Sinn.
Ist möglicherweise die Schönheit des "Augenblicks" etwas anderes als die Schönheit eines Bildes? Ist, wie Goethe gesagt hat, die Kunst das, was über die Schöpfung hinausgeht, da sie die göttliche Schönheit zum Ausdruck bringt? Hat so der Mensch endlich Anteil am ewig Göttlichen? Läst sich so die Vormachtstellung des Menschen über die Natur endlich philosophisch untermauern? Im 19.Jhdt ging das vielleicht noch. Da wir allemal kapiert haben, dass der Mensch die Erde nur okkupiert hat, kann ich diese theoretische Orientierung nicht akzeptieren.
Ich denke die Schönheit, die ein Bild, oder vergleichbare Artefakte ausdrücken können, und die, die von der Natur ausgeht, hat denselben Wahrnehmungshintergrund, ist nur im Mischungsverhältnis anders, und damit möglicherweise "schöner".
Das Identifikationsvermögen des Einzelnen mag gegenüber der Vielfalt von Sinneseindrücken normalerweise überfordert sein, die Komplexität einer Gesellschaft, die auf den Sinnesreiz allergrößten Wert legt bis hin zum Ohren und Augen betäubenden Spektakel, all dies in ein sinnlich verarbeitbares Maß zu bringen, ist das Geschäft dieser Spezialisten, die sich mit künstlerisch angewandter Sprache befassen. (Nur ganz nebenbei: es können auch andere Dinge für ein Bild von Interesse sein als nur Schönheit zum Ausdruck zu bringen...)
Und eben hier setzt die qualitative Wirkung eines Kunstwerkes ein:
Über die bildnerischen Abstrakta, diese Grundstrukturen, die Abbilder sind unserer abstrakten Wahrnehmung von Wirklichkeit, erleben wir das Bild (ohne Anstrengung) als ein Geordnetes. Welcher Art diese Ordnung ist, ist dabei noch völlig offen.
Was auf dem Bild drauf ist, ist schon "vor-gesehen", gewissermaßen "vorgekaut", es ist durch ein menschliches Gehirn vorgeformt. Aus dem Amorphen wurde ein Geordnetes, unserer Einsicht Zugängliches.
Dies ist die Aufgabe des Künstlers, und das ist es, was wir von ihm wollen: das auf diesen vielen Wahrnehmungsebenen uns ständig Zufließende so darzustellen, daß es für uns eine Struktur erhält, in der wir uns über das uns Individuelle hinaus bewegen und uns orientieren können. Und dazu brauchen wir auch die Ruhe, wir müssen uns diesem Bild widmen können, müssen die Einzelheiten dem Ganzen zuzuordnen In der Lage sein. Alle Wahrnehmungen haben hier im Bild, wie in allen künstlerisch verwendeten Sprachen ihre abstrahierte Form und so, dass sie einen Ausdruck für das finden, was jetzt z.B. in diesem Bild Thema ist. Und das Thema muß benennbar, begreifbar sein, es kann schon sehr komplex, aber es muss auch überschaubar sein.
Also wieder zurück zum Bild.
Was liegt jetzt vor uns?
Der Künstler hat seine Wahrnehmung, seine Vorstellung von Wirklichkeit und Schönheit in ein Bild umgesetzt. Dieses Bild hat diese ungestüme Schönheit der Wirklichkeit gebändigt in Form und Gestaltung. Es ist hier ein Ordnungsschema erkennbar, eines des weglässt, was verwirren könnte und zufügt, was dem Verständnis hilft. Die beiden Klammern der Wahrnehmung von Wirklichkeit sind die ästhetische und die abstrakte Wahrnehmung von Wirklichkeit. Auf diesen beiden Ebenen spielt sich in erster Linie des Bild auch ab. Matisse hat die vielfältige Menge von visuellen Möglichkeiten auf eine sehr präzise Weise miteinander verbunden, farbig und formhaft so auf die Leinwand gebracht, dass unser Auge erst einmal "satt" zu sehen bekommt. Die Farbspiele, das Aufgreifen und Variieren von Farben und Valeurs In der Komposition, die verschiedenen Wertigkeiten des Violetts, mal ins Pariserblau tendierend mal übers Purpurviolett bis hin zum zarten Flieder, daneben die Rottöne, die einmal ins Rosa hineinklingen, dann auf der Grundlage von sattem Kadmiumrot den Violetton wieder aufnehmen, der auch im Blumenmuster der Tischecke diese beiden Farbvarianten in spielerischer Weise wieder aufgreift. Und dann das Helle gegen das Dunkle, vermittelt über des lineare Element der Konturen und rhythmisierten Linienformationen des Hintergrunds, klar gegliedert und voneinander abgegrenzt und doch innig miteinander verwoben, sich gegenseitig aufgreifend, sich akzentuierend, mal als Licht, mal als Farbfleck, mal stocherig gerade und denn wieder rund schwingend. Das Grün in der Schale und in den Blättern der Blumen auf der Tischdecke, kalt durch das Veronesergrün und warm durch den variierenden Anteil von Gelb, und alles kühn kontrastiert vom Orange, was da so aufmüpfig und doch so gebändigt in der Schale, im Rund zu liegen kommt. Man nehme das Orange weg, und übrig bliebe von der Farbe her ein allenfalls interessanter Markisenstoff, auch angenehm, aber nicht mit dem Augenkitzel zu vergleichen, den Matisse hier vor uns ausbreitet.
Vielleicht ist hier der Ort, kurz die Frage zu streifen, warum sich ein Picasso so ein Bild erworben hat. Die Zeit, in der Picasso kubistisch gearbeitet hat, war auch eine der großen Widersprüche. Er hat experimentiert, hat sich, wie aus seinen Skizzenbüchern hervorgeht, mit Mathematik und mit Flächenverhältnissen beschäftigt. Sieht man sich aus dem Skizzenbuch 59 die Skizzen 2 bis 4 und gleich danach 5 bis 7 an, sieht man die eigenartige Kongruenz der verschieden Auffassungen. Man kann sich schon vorstellen, dass des Bild von Matisse den Picasso beeindruckt hat, ihm künstlerische Hinweise gegeben haben mag, wie er seinen eigenen Weg entwickeln kann. (Übrigens: 1899 kaufte sich Matisse ein Bild von Cezanne "die Drei Badenden"...)
Zurück zu Matisse. Obwohl das Bild sehr kontrastreich aufgebaut ist, kommen Komplementärkontraste nur sehr gebändigt vor, vielleicht wird durch des Orange der Warm-kalt Kontrast stimuliert, aber er geht auch fast unter gegenüber dem Hell-dunkel- und dem durch die Kontur betonten Farbe-an-sich Kontrast. (Matisse schreibt einmal zur Farbe: "Ich habe eine große Vorliebe für leuchtende, klare, reine Farben, und es überrascht mich immer, wenn ich sehe, wie schöne Farben unnötigerweise getrübt und verändert werden.") Interessant erscheint der Quantitätskontrast in diesem Bild: Man kommt fast in die Richtung einer von Itten so benannten objektiven Farbharmonie, die ganz implizit auf den sich ausgleichenden Flächengrößen verschiedener Farbfelder aufbaut und in Korrespondenz steht zur physiologischen Sinnestätigkeit des Auges.
Harmonie und Irritation, Die Verbindlichkeit von Farbvaleurs und der fast aggressiven Valenz von aufeinanderstoßenden, kontrastierenden Farben und Formen, und gleichzeitig die Ruhe der großen Fläche gegenüber der Aufgeregtheit der kleinen Form, all dies sind die Elemente der sinnlichen Attraktivität, bewirkt die Lust am Hinschauen, das sich Wundern über den Bann der ästhetischen Bildwirkung.
Immer wieder prüft man nach, verfolgt die Linien, die Flächen, schaut von Farbe zu Farbe, bleibt ausruhend auf dem rose-angehauchten Weiß, um sich wieder ins Getümmel der Farbigkeit der Obstschale zu stürzen.
Und dieses "In-den-Bann-Ziehen" wird denn aufgegriffen vom abstrakten Gerüst dieses Bildes, die mächtige Senkrecht-Struktur, die dominanten Schrägen, die teils herunterstürzen und eine Labilität ins Bild bringen, die gekontert wird von der aufsteigenden Bruchlinie des Rots und des Weiß', die anaphorisch von der entsprechenden "hinteren" Linie wieder aufgegriffen, und ins Rund der Schale abgelenkt wird. Ein Sog, der einmal über des grüne "Blatt" dann auch über die fast senkrecht nach oben führenden Linien verlassen werden kann, und weitergeführt wird über die Wagerechte und wieder in die abfallende Linie des Hintergrundes mündet. Die Bewegung wird angehalten durch die Senkrechte und doch rhythmisch weitergeleitet. Dies alles ist nur ein kleiner Teil der abstrakten Struktur dieses Bildes und doch schon äußerst aufschlussreich: Ruhe und Bewegung, Aufstreben und fast schon das Hineingleiten in einen nicht mehr einsehbaren Grund, das Violett der Nacht und die Frische des Tages, das noch verhangene Licht und die Fülle in der bergenden Rundung der Schale, die sich ergießen wird, die sich dem Sog der Geschwindigkeit hingeben wird, wie es schon die Blumen auf der Decke tun, die dem sicheren, haltenden Rot des Sockels das fließende Gegengewicht verleihen. Alles ist da, alles wird getragen und kann von da her die dynamischen Kräfte entfalten, noch nicht, aber in irgendeinem der nächsten Augenblicke. Noch ist es das Innehalten, ist es die Statik, die eine beginnende Aktivität in sich trägt, wie der Morgen, der noch alle Möglichkeiten in sich birgt.
Kennt man das nicht? ist dies nicht das wunderbare Empfinden, das man haben kann, wenn einen etwas lockt und verführen will, und man nur Ja zu sagen braucht, ist nicht das Hineingelangen von einem Augenblick in den nächsten immer wieder dieses Spiel? Das verstehe ich unter der abstrakten Wahrnehmung von Wirklichkeit und der Möglichkeit, diese in bildnerische Grundstrukturen umzusetzen.
Ja, und das Ikonische spielt dann die Begleitmusik zu diesem Thema: Der Früchteteller, wo es nur Zuzugreifen gilt, und doch die Unklarheit des Raumes, weiß man doch nie, was daraus wird, wenn man den Apfel isst.
Und dann noch die Ebene des "Stilllebens"; nicht gerade wenig strapaziert in der Geschichte der Kunst, und jeder der ein Stillleben malt, weiß was er tut. Natürlich ist es nur ein Arrangement um dabei Kompositionen sinnfällig zu machen, aber es ist auch noch mehr: Es ist der Hinweis, wie alles Sinnliche vergänglich ist, wie das vom Menschen Arrangierte schon ein Stück vom Tode ist. Dies mag die Tischdecke repräsentieren: Die abgeschnittene Blume ohne Wasser, ist sozusagen der Fond, auf dem die Obstschale steht, der kunstgeschichtliche Bezug, aber: hier wird nichts verwelken, es wird aufgegessen, zum Genuss und zur Stärkung der menschlichen Seele.
Wie schon gesagt, ich will hier keine Analyse dieses Bildes vornehmen, ich will ein paar Elemente nennen, die uns verständlich machen, warum dieses Bild schön sein kann. Über des reizvoll Verführerische der ästhetischen Ebene, zum gleichnishaften Ausdruck der abstrakten Ebene, unterstützt von dem angenehmen und raffinierten der ikonischen und sprachsymbolischen Formulierung kann dieses Bild so etwas wie Schönheit vermitteln.
Und es ist eben komponiert, die Elemente der verschiedenen Ebenen sind aufeinander bezogen und bringen sich gegenseitig in Schwingung wie bei einem guten Saiteninstrument, bei dem sich die Töne des klingenden Akkorde gegenseitig einfärben und steigern.
Wir alle versuchen, diese Klarheit in der Wahrnehmung zu erlangen; den Wald vor Bäumen nicht zu sehen kennen wir allerdings alle. Und da ist denn so ein Matisse, der uns in dieser unaufdringlichen und aufs Wesentliche reduzierten Form klarmacht, was das ist so - ein Anfang.
Und zum Schluss das Zitat :
"Eine derartig freie Haltung gegenüber der Natur konnte Matisse zur absoluten Abstraktion der Natur, zur Trennung zwischen Linie und Farbe einerseits und dem Gegenstand andererseits führen. Aber hier erst vollzieht sich das Wunder. Das Abstraktum, bei dem Matisse endet, ist nicht von dem Gegenstand getrennt und bleibt mit Wirklichkeit geladen...". Das gesamte Werk von Matisse ist, wie Appolinaire sagt "die Frucht eines strahlenden Lichts". (André Lejard, Matisse Gemälde 1939-46, Editions du Chéne, Paris)
©Tilman Rothermel, "Zur ästhetischen Wahrnehmung von Wirklichkeit - Eine Bildinterpretation." Vortrag im Rahmen der Kulturtagung IV (Hans Böckler Stiftung) "Ästhetik und Wahrnehmung: Nahe oder entfernte Verwandte?" 17. bis 22. Juli 1994 Jugenddorf Steinkimmen.