Zum Begriff des Abstrakten in der Zeichenkritischen Theorie


Der Begriff des Abstrakten hat sich im Laufe meiner Beschäftigung mit der zeichenkritischen Theorie als eines der zentralen Elemente herausgestellt. Ich musste diesen Begriff völlig neu definieren und ihn von den Begriffen unterscheiden, die häufig insbesondere bei der bildenden Kunst damit gleichgesetzt werden: ungegenständlich, "konkret", non-figurativ, Abstraktion...

Das "Abstrakte" wird im allgemeinen Sprachgebrauch bestimmt als etwas, was nicht der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sei, was "jenseits" der Welt der Erscheinungen (Platon), das Wesen der Dinge repräsentiere. So gäbe es auch sog. "abstrakte Begriffe" wie Freiheit, Natur, Recht etc. Abstraktes Denken sei deshalb auch dem gegenständlichen Denken überlegen. 

Eine zentrale menschliche Fähigkeit im Bereich des Denkens operiert mit 'Begriffen': "....eine der ältesten und mehrdeutigsten Bezeichnungen der Philosophie, die gemeinhin jene allgemeine Vorstellung von Gegenständen bzw. Phänomenen meint, die durch die Abstraktion vom Konkreten, Besonderen und Individuellen gewonnen werden kann. Er zielt auf die einfachste Art des Denkens ab, um diese vom komplexeren Urteil oder Schluss (siehe Fehlschluss) abzugrenzen. Diese wiederum bauen auf einem System von Begriffen auf. Einen Begriff von etwas zu haben, meint die Bedeutung oder das Wesen des entsprechenden Phänomens zu kennen und in der Lage zu sein, es von anderen zu unterscheiden. ..."

Geht man von dem Gedanken des Ikonischen aus, dann sind auch die Dinge vom jeweiligen gesellschaftlichen Gebrauch her in ihrer Bedeutung begrenzt, es sind also bereits die 'Dinge' selbst Abstraktionen, d.h. gemäß bestimmten menschlichen Zwecken auf Eigenschaften reduzierte Anschauungsweisen, ja, wenn man einen Gegenstand in der Hand hält, könnte man annehmen, dass dieser Gegenstand noch etwas völlig anderes sein könnte, als das, wofür man ihn hält, und nur der menschliche Gebrauch und der zielbestimmende Zweck macht aus ihm den Gegenstand, für den wir ihn halten. 

Und dennoch haben wir etwas in der Hand. Über die Konkretion dessen, dass wir etwas in der Hand halten, haben wir gleichzeitig etwas in der Hand, was in der Konkretion zu Tage tritt. Ich nenne das, was da 'zu Tage tritt' die "existentiellen Konstanten". 

Die Idee der existentiellen Konstanten leitete sich in den Überlegungen der Zeichenkritischen Theorie von den bildnerischen Variablen her ab. Ich habe also dabei das Pferd vom Schwanz aufgezäumt. Die bildnerischen Variablen sind die Elemente, ohne die ein Bild kein Bild wäre, anders ausgedrückt: es sind die konstituierenden Elemente für das Phänomen "Bild". Diese Variablen sind aber eben noch variabel, d.h. sie bedürfen der Konkretion um in Erscheinung zu treten. Nehmen wir "Spur": ohne eine Spur (Trägermaterial plus Gestaltungsmaterial/Werkzeug plus eingreifendes Subjekt) gäbe es kein Bild. Es wäre sinnlos von einem Bild zu sprechen, bei dem niemand mit nichts auf nichts nichts getan hat. In dem Moment, wo ich mich entscheide, ein Trägermaterial zu nehmen (Papier einer ganz bestimmten Sorte z.B.) ist das Trägermaterial schon nicht mehr variabel, es ist bestimmt in seiner Qualität, und nichts wird diese Qualität mehr ändern. Die bildnerischen Variablen treten in der Konkretion des "so und nicht anders" in Erscheinung. 

In meinen Überlegungen stelle ich somit den Begriff der Konkretion dem des Abstrakten gegenüber, behaupte aber, dass beide untrennbar miteinander verknüpft sind. Das Ding, welches wir gerade in die Hand nehmen, ist demnach eine Konkretion, ebenso wie der Schritt, den wir machen, das Stück Holz, welches wir bearbeiten, oder der Tag der sich zu Ende neigt. In den Konkretionen wirken die existentiellen Konstanten, an denen wir selbstverständlich auch über unser Sein in der Welt Kontakt haben, oder selbst diese existentiellen Konstanten (zusammen mit allem anderen) sind.

Wie wir wissen, sind die Augenblicke, die wir erleben, alle vergänglich, nichts kehrt wieder zurück, alles ist immer wieder neu und anders. Dennoch gibt es im Leben des Menschen Konstanten, die zwar ständig in veränderter Weise in Erscheinung treten, "konkret werden", aber grundsätzlich zur menschlichen Existenz dazugehören. Ohne diese "existentiellen Konstanten" gäbe es nicht das, was wir als "Menschsein" bezeichnen. 

Nehmen wir ein paar Beispiele. 

Atmung: ohne Atmung könnten wir nicht existieren und dennoch ist jeder Atemzug ein ganz besonderer. 

Stehen: ohne aufrechten Gang wären wir keine Menschen. Das Stehen (Senkrechte) ist eine jeweils besondere Konkretion der existentiellen Konstanten "Schwerkraft". 

Haut: ohne Begrenzung (Oberfläche) zum Umraum hätten wir keine Gestalt, keine Identität, vielleicht wären wir Geister, aber keine Menschen. Und jeder Mensch hat seine eigene, ihn begrenzende Haut.

Tag und Nacht: Unser Leben auf diesem Planeten ist unabänderlich verknüpft mit dem Wechsel der Tageszeiten. Und dennoch ist jeder Tag neu und anders.

Mehr dazu gibt es in dem Themenbereich der Zeichenkritischen Theorie "Abstrakt", dort werden u.a. die bildnerischen Variablen ausführlich auf ihre Relation mit den existentiellen Konstanten hin überprüft.


zurück