Vorbemerkung


Wir haben bisher O' als "Befindlichkeit" charakterisiert. Bisher wurde nicht darüber gesprochen, wie dieses O' sich bildet, aus welchen Elementen es besteht. Die Befindlichkeit ist aus der Sicht der Zeichenkritischen Theorien ein Komplex von Wahrnehmungsinhalten, die alle aufeinander bezogen sind, und dennoch klar voneinander unterschieden sind. 

An dieser Stelle möchte ich noch einmal deutlich machen, dass das eigentliche Thema der Zeichenkritischen Theorie der Umgang mit Kunstwerken ist. Im Laufe der Entwicklung dieser Theorie (von Kommunikationsmodellen und Semiotik her) wurde klar, dass es Unsinn ist anzunehmen, dass die Beschäftigung mit Bildern grundsätzlich etwas anderes sein soll, als die Beschäftigung mit dem, was den Menschen normalerweise umgibt. Selbstverständlich gibt es Unterschiede, aber die Wahrnehmung der uns umgebenden Umwelt hat für Wahrnehmungsinhalte eine grundsätzliche Bedeutung. Die Wahrnehmung von Bildern (also die Rezeption) hat dieser gegenüber eine untergeordnete Rolle, bzw. hängt ursächlich mit dieser zusammen. Ich denke grundsätzlich nicht, dass die Wahrnehmung von Bildern etwas anderes ist die Wahrnehmung der Realität.

Deswegen ist es legitim, die Phänomene der Wahrnehmung gegenüber der Realität der Rezeption von Bildern (und anderen Kunstwerken) voranzustellen, da diese ein wesentliches Anschauungsmaterial sind, um dann weitere Fragen zu klären, wie Bilder angeschaut werden. 

Die Wahrnehmung von Bildern ist in der Zeichenkritischen Theorie eine Frage der Rezeption und wird dort eingehend behandelt.

Die Zeichenkritische Theorie geht davon aus, dass die Wahrnehmung von Wirklichkeit sich in zwei Dimensionen erstreckt: einmal auf das hin, was unter Wirklichkeitsebenen verstanden wird und sich in dem Gedanken bündelt "worauf" sich die Wahrnehmung richtet (also die Wahrnehmung richtet sich auf die Realität oder auf die eigene Befindlichkeit oder auf die Formulierung usw. - und natürlich dann auch die entsprechenden Wahrnehmungsmodi), und eine zweite Dimension der Wahrnehmung, die die Art und Weise charakterisiert, "wie" man auf die jeweilige Wirklichkeitsebene oder den Wirklichkeitsmodus schaut. Ich führe dafür einen neuen Begriff ein und spreche hier von der "Wahrnehmungstendenz". Wahrnehmungstendenzen" bezeichnen damit die Art und Weise, wie das Gehirn mit Informationen umgeht.

Die Wahrnehmung gliedert sich im Modell der Zeichenkritischen Theorie also in ein 'worauf die Wahrnehmung sich richtet' als die Wahrnehmungsebene (oder analog zu der Verknüpfung von Wirklichkeitsebenen zu einem Wirklichkeitsmodus dann als den Wahrnehmungsmodus), und in ein 'wie nimmt die Wahrnehmung wahr' als Wahrnehmungstendenz (und in deren möglichen Mischungsverhältnissen dann als 'Wahrnehmungsweise'). Alles dreimal rumgerührt ergibt dann die Wahrnehmungsintention, und das ist die Komplexität dessen, was wir auch erleben, wenn wir auf z.B. im Urlaub irgendwo herumsitzen und Kaffee trinken... Die Wahrnehmungsintention ist unsere gesamte subjektive Gerichtetheit auf die Wirklichkeit. 


Die Wahrnehmungsebenen


Grundsätzlich richten wir natürlich unsere Wahrnehmung auf alle Wirklichkeitsebenen und tun dies mit allen Wahrnehmungsintentionen, dennoch ist leicht einsichtig, dass auf Grund persönlicher, situativer, kultureller Besonderheiten, die Wahrnehmung sich einmal mehr auf die eine Wirklichkeitsebene mit einer bestimmten Wahrnehmungstendenz richtet, bald richtet sie sich auf eine andere Wirklichkeitserfahrung, was als Begriff für diese komplexe Wahrnehmung stehen mag. Die Wahrnehmungsintention ist im Gegensatz zur Wirklichkeitserfahrung gezielter, und drückt mehr den Aspekt der bewusst/unbewusst gelenkten Wahrnehmung aus. Man nennt diesen Zusammenhang in der Psychologie auch "tendenziöse Apperzeption". 

Die Wahrnehmungsebenen folgen der Systematik der Wirklichkeitsebenen. Wenn sich die Wahrnehmung insbesondere auf die Realität richtet, nennt man dies eine "O-Wahrnehmung"; die O'-Wahrnehmung ist dann die Lenkung der Wahrnehmung auf die Befindlichkeit usw. 


Dann allerdings kommen zwei neue Wahrnehmungsebenen hinzu: Nach der O''''-Wahrnehmung, die auf das kulturelle Netz orientiert ist, gibt es die Wahrnehmung eben dieses kulturellen Netzes, allerdings als eine Wahrnehmungsebene, die diesem kulturellen Netz kritisch gegenübersteht (Die Wahrnehmungsebene der Kritik). Als Menschen sind wir ganz selbstverständlich im kulturellen Netz verankert, über Erziehung, Sozialisation, Ökonomie, Religion, Gesetz etc. Kein Mensch kann sich diesem kulturellen Netz entziehen, selbst für Robinson Crusoe war dieses Netz Grundbedingung des Überlebens. 

Wie bei der Wirklichkeitsebene O'''' ausgeführt wurde, ist dieses Netz aber auch immer eine nur temporäre Abbildung der Zusammenhänge von Individuum, Gesellschaft und Realität. Die Entwicklung der Verhältnisse ist dynamischer als es die kulturellen Zusammenhänge sind. Deswegen kommt es zu Konflikten zwischen diesen beiden Kräften, die auf Grund der unterschiedlichen Positionen innerhalb dieser Verhältnisse von den Individuen einer Gesellschaft unterschiedlich schnell oder unterschiedlich intensiv wahrgenommen werden. Diese Prozesse sind vielleicht das, was man als Geschichte bezeichnen kann.

Diese geschichtlichen Prozesse können Ursache für eine kritische Haltung dem kulturellen Netz gegenüber sein, die sich dann erst einmal darin auswirkt, dass dem Menschen Missstände bewusst werden, er seine eigene Haltung diesem kulturellen Netz gegenüber überprüft (selbstkritisch: "was mache ich da eigentlich", "was denke ich da eigentlich"... ), aber eben auch "gesellschaftskritisch" im Sinne von Gerechtigkeit, was ein Ausdruck sein kann dafür, dass eine "richtige" Abbildung der Verhältnisse durch das kulturelle Netz gefordert wird. Als O'''''-Wahrnehmung ist dies allerdings noch klar bezogen auf interne Bewusstseinsvorgänge. 

Die nächste Wahrnehmungsebene - ich bezeichne diese als O''' ''' - Die Wahrnehmungsebene der Autonomie - ist die Umsetzung dieser Erkenntnis in eine Haltung, die die unterschiedlichen Positionen menschlicher Wahrnehmung (und menschlichen Handelns)  gegenüber diesen geschichtlichen Prozessen erfasst. Es drückt sich aus im Verstehen, im Verhandeln, im Kompromiss, Diese Ebene hat allerdings ihr hauptsächliches "Gebiet" als Aussagebene bzw. ganz besonders als Handlungsebene. Dies wir in späteren Lektionen ausgeführt.

Diese unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen als Wahrnehmungsmodi zu erfassen, bleibt Ihnen lieber Leser vorbehalten...