Die Zeichenkritische Theorie ist ein Werkzeug zur Betrachtung und Analyse von Werken der bildenden Kunst.
Sie ist ein Umgangsmodell mit Zeichensystemen.
Die Zeichenkritische Theorie stellt für den Praktiker eine Möglichkeit dar, die eigene Produktion auf ihre ablesbare Intention hin zu überprüfen und insbesondere im Zusammenhang mit Skizzen und Entwurfsarbeit zu reichhaltigen und unvermuteten Lösungen zu gelangen.
Die Zeichenkritische Theorie geht von folgenden Vorstellungen aus:
Die von uns Menschen erlebte "Wirklichkeit" kann betrachtet werden als ein Zusammenspiel unterschiedlicher "Wirklichkeitsebenen". Diese Wirklichkeitsebenen erfahren wir als "Wahrnehmungsebenen". Unserer "Wahrnehmung von Wirklichkeit" kann deswegen aufgefasst werden als ein jedem Menschen individuell zugehöriges "Mischungsverhältnis" der unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen. So entsteht für jeden Menschen ein je eigenes Bild der Wirklichkeit. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit ist allerdings nicht beliebig: die Zeichenkritische Theorie unterscheidet konstante, kulturell bestimmte und individuell bestimmte Wahrnehmungsweisen.
1. Alle Wirklichkeitsebenen sind Gegenstand von Werken der bildenden Kunst. Die Wirklichkeitsebenen und deren Übersetzung in Sprachformen, insbesondere der Bildnerei, ist Gegenstand des "O-Modells". Dieses Denkmodell ist zentraler Gegenstand der Zeichenkritischen Theorie.
2. Im Kopf eines jeden Menschen - und damit auch des Künstlers, der sich mit der Wirklichkeit konfrontiert sieht, bilden sich die Wirklichkeitsebenen in einem jeweils individuell unterschiedlichen Gewichtung als erlebte Wirklichkeit ab. Der Künstler verfolgt bewusst oder unbewusst Ziele, die der Darstellung dieser erlebten Wirklichkeit zum Tragen verhelfen sollen.
3. Die Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebenen können sich somit in einem künstlerischen Werk in ganz vielfältiger Weise miteinander mischen. Sie erscheinen dann in ihrer jeweiligen Sprachform (Bild, Musik, Literatur, u.a.) als Aussageebenen und deren entsprechendem Mischungsverhältnis.
4. Die Aussageebenen können unterschieden werden:
- Als Aussage über Realität in ihren vielfältigsten Ausprägungen und Beziehungen, wobei als Realität die Gesamtheit der natürlichen Prozesse und Seinsformen verstanden wird, in "Unabhängigkeit" von menschlicher Beeinflussung (soweit dies vorstellbar ist).
- als Aussage über die Repräsentation dieser Realität im Bewusstsein eines Menschen, bzw. im Künstler selbst,
- als Möglichkeit die interne Repräsentation der äußeren Realität als Sprache darzustellen und nach außen zu vermitteln,
- als die Wirksamkeit dieser sprachlichen Formulierungen bei einem Empfänger im Sinne einer Beeinflussung dessen bewusster und unbewusster Wahrnehmung von Wirklichkeit.
5. Die Ebene der Wirksamkeit selbst kann nochmals unterschieden werden:
- Die Wirksamkeit soll beim Rezipienten eine innere Aufmerksamkeit hervorrufen, die in der Regel positiv erfahrbar ist, man erlebt z.B. etwas als "schön", als "interessant".
- Die Wirksamkeit wird zur (beabsichtigten) Auswirkung, wenn der Versuch unternommen wird, das Handeln des Rezipienten in eine ganz bestimmte Richtung zu beeinflussen, gerade auch als Affirmation kultureller Zusammenhänge.
- wenn es um die Aufforderung geht, dieses Handeln als reflektierbares Handeln wahrzunehmen, den eigenen (und kulturell vermittelten) Handlungsmustern mit einem kritischen Bewusstsein zu begegnen.
- und letztlich den Rezipienten aufzufordern, sein Handeln auf diese kritische Erfahrung hin zu ändern. Alle diese Rezipienten-orientierten Intentionen können ebenso manipulativ wie emanzipatorisch eingesetzt werden.
6. Es hängt von der individuellen Eigenart des Produzenten ab, inwieweit er diese Aussageebenen bewusst oder unbewusst einsetzt und beherrscht.
7. Die Zeichenkritische Theorie stellt jede der Wirklichkeits-, Wahrnehmungs- bzw. Aussageebenen nochmals in einem komplexen Mischungsverhältnis von Wahrnehmungs- bzw. Darstellungstendenzen dar:
- Der Produzent kann den Akzent auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Phänomene legen,
- er kann Handlungsfelder sichtbar machen,
- er kann unterbewusste Motivationen in Richtung auf die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen hin aktivieren,
- er kann die Wiedererkennbarkeit der entsprechenden Phänomene zum Gegenstand machen,
- er kann eine (seine) individuelle Vorstellungswelt darauf aufbauen,
- er kann die Codierungen des kulturellen Umfeld verwenden,
- er kann auf ein überprüfbares Wissen im Sinne von Kontextualität bezüglich der Wirklichkeitsebenen hinweisen
- und er kann das Allgemeine, Grundsätzliche, immer Vorhandene der Wirklichkeitsebenen zum Ausdruck bringen.
8. Der Rezipient selbst erlebt die vom Künstler gestalteten Nachrichten mit seinem ihm eigenen Mischungsverhältnis der Wirklichkeitsebenen und Wahrnehmungstendenzen. Diese können mit der Aussage des Künstlers korrelieren oder auch mit ihr im Widerspruch stehen. Hieraus leitet sich u.a. die Akzeptanz der Nachricht ab.
Wie schon an anderer Stelle ausgeführt, war die Semiotik Grundlage zur Entwicklung der Zeichenkritischen Theorie. Durch die Ausformulierung der Zeichenkritischen Theorie haben sich etliche Besonderheiten gegenüber der Semiotik entwickelt, sodass der innere Zusammenhang nicht mehr ohne weiteres erkennbar ist - und es auch nicht mehr zu sein braucht.
Eine besondere Qualität der Zeichenkritischen Theorie ist ihre Anwendbarkeit für den Praktiker, dies wurde in vielen Unterrichtssituationen erprobt, ist hier aber nicht Gegenstand der Untersuchung. (siehe Lektion 15)
Zum anderen hat es sich so ergeben, dass die Prämisse der Zeichenkritischen Theorie "Man erlebt ein Bild grundsätzlich nicht anders als die Wirklichkeit" zu wahrnehmungstheoretischen Untersuchungen geführt hat, die auch gehirnphysiologische Vorrausetzungen versucht einzubinden.
Die vier Dimensionen der semiotischen Analyse wurden aufgegeben, das zentrale "Zeichen" jedoch beibehalten. Die vier Dimensionen der Semiotik tauchen in ganz neuen Zuordnungen innerhalb des Systems von Aussageebenen und Darstellungstendenzen wieder auf. Dazu gibt es entscheidende Elemente, die in der semiotischen Analyse nicht vorkommen. Insbesondere beinhaltet die Zeichenkritischen Theorie eine völlig neue Theorie des Abstrakten. Auch die Ausdifferenzierung des Symbolischen ist ein wesentliches Kennzeichen der Zeichenkritischen Theorie.
Mit der Wirklichkeitsebene des "kulturellen Netzes" hat die Zeichenkritischen Theorie ein Werkzeug zur Untersuchung gesellschaftlicher Wertsysteme entwickelt, mit dem man Veränderungen gesellschaftlicher Diskurse beschreiben und untersuchen kann. Innovation und Konservatismus werden durch das Zusammenspiel von Individualsymbolik und Sprachsymbolik erfassbar.